PDF

„Die Tätigkeit des Lehrers ist im idealen Fall gleich Null …“ (Gaudig, Hugo: Die Schule im Dienste der werdenden Persönlichkeit. Erster Band. Leipzig 1922. S. 110)

Nach dem „Handbuch zur Montessori-Didaktik“, dem ersten in Österreich publizierten „Jenaplan-Buch“ „Der Jenaplan heute“, der „Einführung in die Daltonplan-Pädagogik“ mit erstmals in deutscher Sprache publizierten Originaltexten Helen Parkhursts aus ihrem Buch „Education on the Daltonplan“ liegt nun der vierte Band einer Reihe über reformpädagogische Konzeptionen als Studientext vor: ein Buch über die Aktualität der Freinet-Pädagogik, in dem nicht versäumt wird, auch die Wurzeln einer pädagogischen Bewegung aufzuzeigen und dem Leser eine Möglichkeit zu geben, diese pädagogische Bewegung auch in einem radikalen Sinn zu studieren.

Zitiert aus: Eichelberger, Harald (Hrsg.): Freinet-Pädagogik und die moderne Schule. Innsbruck 2003, Studienverlag.

Die Freinet-Pädagogik als Fundament des schulischen und gesellschaftlichen Wandels

Harald Eichelberger & Christian Laner

„Die Tätigkeit des Lehrers ist im idealen Fall gleich Null …“[1]
Hugo Gaudig

 

Nach dem „Handbuch zur Montessori-Didaktik“, dem ersten in Österreich publizierten „Jenaplan-Buch“ „Der Jenaplan heute“, der „Einführung in die Daltonplan-Pädagogik“ mit erstmals in deutscher Sprache publizierten Originaltexten Helen Parkhursts aus ihrem Buch „Education on the Daltonplan“ liegt nun der vierte Band einer Reihe über reformpädagogische Konzeptionen als Studientext vor: ein Buch über die Aktualität der Freinet-Pädagogik, in dem nicht versäumt wird, auch die Wurzeln einer pädagogischen Bewegung aufzuzeigen und dem Leser eine Möglichkeit zu geben, diese pädagogische Bewegung auch in einem radikalen Sinn zu studieren.

Die Autoren dieses Bandes sehen die Reformpädagogik als Fundament der gegenwärtigen bildungspolitischen Entwicklung und im speziellen die Freinet-Pädagogik als wesentlichen Teil dieses Fundamentes zur Erneuerung und ständigen gesellschaftspolitisch notwendigen Entwicklung der Schule und des gesamten Schulsystems.

Was gegenwärtig real- und bildungspolitisch notwendig ist, ist das kritische Durchdenken und Sichten der an Erneuerungsideen reichen Reform-Bewegung hinsichtlich ihrer vielen auch gegenwärtig noch tragfähigen und zukunftsträchtigen pädagogischen Konzeptionen. „Eine Auseinandersetzung mit den reformpädagogischen Grundgedanken bedeutet stets eine substantielle Bereicherung, weil hier gültige Antworten auf Fragen entwickelt wurden, die in veränderter zeitspezifischer Konfiguration noch unsere Fragen sind.

Das Konzept der daltonisierten Schule, die Methoden der Pädagogen Decroly, Freinet, Montessori, Steiner, Petersen sind noch heute so aussagekräftig wie in den 20er Jahren, als sie entwickelt wurden. Genauer gesagt: sie gehören auch gegenwärtig zu den wenigen gültigen Modellen, die eine begründete und bewährte Antwort auf die Bildungsproblematik geben.

Der entscheidende Grundgedanke der Reformpädagogik, der ihre Verästelung in die verschiedensten pädagogischen Bereiche zusammenhält, ist das Prinzip der Selbsttätigkeit in der Erziehung. Es zeigt sich in der Individualisierung des Unterrichts ebenso wie in den Formen der Selbstbeurteilung oder Mitverwaltung. In einer erfindungsreichen Weiterentwicklung, Gestaltung und Umsetzung des reichen pädagogischen Ideengutes der pädagogischen Klassiker entstand ein neues Bild der Schule als Lebens- und Wirkungsraum des Kindes, in dem es sich wohlfühlt, weil es durch seine Mitwirkung ein begründetes Heimatrecht erwirkt.“[2]

Bei allen Gemeinsamkeiten, die in den pädagogischen Ideen und Konzeptionen der Reformpädagogik zu finden sind, finden wir auch Ausdifferenzierung und Orientierungen unterschiedlicher Art und unterschiedlicher Richtungen. Die Freinet-Pädagogik ist ein Beispiel für die spezielle Ausrichtung einer pädagogischen Konzeption innerhalb einer pädagogischen Bewegung (der Reformpädagogik – Anm. der Autoren) bei gleichzeitiger Betonung der gleichen Grundorientierung.

„Die Reformpädagogik ist eine ungewöhnlich komplexe Bewegung … Sie hat so unterschiedliche Sprecher hervorgebracht wie Cecil Reddie, Hermann Lietz, Bertholt Otto, Maria Montessori, Paul Oestreich, Adolf Reichwein, Célestin Freinet u. a. Sicherlich waren sie alle keine pädagogischen Revolutionäre, die die Abschaffung der Klassengesellschaft als Grundvoraussetzung für die Menschenbildung betrachteten, wie es von Seiten der marxistischen Pädagogik gefordert wird; sie waren in erster Linie Pädagogen und suchten die Reform mit pädagogischen Mitteln in pädagogischer Begründung einzuleiten.“

 

Célestin Freinet ist aus heutiger Sicht ein klassischer Vertreter der Reformpädagogik. Der von ihm geschaffenen pädagogischen Bewegung ist innerhalb aller anderen reformpädagogischen Konzeptionen auch eine spezielle Perspektive eigen. Célestin Freinet ist der expressis verbis politischste aller Reformpädagogen: In der Freinet-Schule wird demokratisches Handeln gelernt, werden Regeln gelernt, nach denen ich selbst verantwortlich im Leben politisch agieren kann. Politisch Handeln und politisch Denken zu lernen ist Vorbereitung auf das Leben, ist Erreichen von Selbstständigkeit durch Selbsttätigkeit unter dem Primat des pädagogischen Denkens.

Die Freinet-Pädagogik war und ist nicht auf die schulische Arbeit alleine beschränkt. Sie war und ist eine Pädagogik mit dem Anspruch der Veränderung der Gesellschaft. Nicht nur die Gestaltung der Schule ist die Aufgabe der Lehrer, Eltern und Kinder. Gerade mit der Aufgabe der Schulgestaltung und Schulentwicklung wollte Célestin Freinet in seinen Kindern das Bewusstsein schaffen, dass auch die Gesellschaft nach den Bedürfnissen des Kindes bzw. der Betroffenen veränderbar ist. Er hat den Kindern das Wort gegeben, damit sie lernen, sich zu artikulieren, damit sie lernen können, in einer Demokratie zu leben – verantwortlich für sich selbst und für andere Menschen und doch selbstbestimmend innerhalb eines demokratisch strukturierten sozialen Gefüges zu sein. Wo sonst sollen Kinder Demokratie lernen, wenn nicht in der Schule? Und wir dürfen und müssen nicht nur den Kindern das Wort zur Gestaltung und Entwicklung ihrer Schule geben, sondern auch den Lehrerinnen und Lehrern und den Eltern. Demokratie bedeutet Mitbestimmung und daher auch Mitbestimmung an einem lebendigen Gestaltung und Umgestaltungsprozess der Gesellschaft und eines wesentlichen Teils derselben: der Schule.

„Célestin Freinet ist bestrebt, für diesen Umwandlungsprozess den pädagogischen Rahmen in der Schule zu entfalten, der bei ihm als Schulkollektiv eine pädagogische Synthese zwischen dem Schulstaat und der Schulform bildet. Die Druckerpresse als das schulpraktische Zentrum bietet Möglichkeiten sowohl hinsichtlich der selbsttätigen Aufgabenlösung – sei es als individuelle Leistung oder als kooperative Bewährung in der Gruppe. Der Austausch der Arbeitsergebnisse mit Patenschulen in anderen Regionen und Ländern gewährt zugleich die Möglichkeiten des internationalen Gedanken- und Erfahrungsaustauschs als Vorstufe zur internationalen Verständigung.“[3]

Das Studium der Freinet-Pädagogik wie auch anderer reformpädagogischer Modelle sollte es uns ermöglichen, dem pädagogischen Ziel eines auf Selbständigkeit und Selbstbestimmung basierenden Bildungsprozesses in den österreichischen Schulen näher zu kommen, ohne die Notwendigkeit einer didaktisch-methodischen Grundlage für schulisches Lernen und den gesellschaftlichen Rahmen der Schule in Österreich aus den Augen zu verlieren.

 „Die Repräsentanten der Reformpädagogik sind Gestalten eigener Dignität. Ihre Theorie ist fest mit den relevanten praktischen Wirklichkeitsbereichen verwoben, so dass das eine stets mit den anderen mitbedacht sein will. Die Reformpädagogik stellt insgesamt gleichsam ein System der pädagogischen Schlüsselbegriffe dar, die, unter Nutzung der Grundeinsichten der pädagogischen Klassiker, die Bereiche der Erziehungswirklichkeit so erschließen und gestaltbar machen, dass ein nie abreißender Dialog zwischen Theorie und Praxis entsteht.“[4]

Mit all den zu diskutierenden Konzepten sind pädagogische Prinzipien wie Selbständigkeit, Selbstbildung, Eigenverantwortung, Selbsttätigkeit, eigen­ständiges und autonomes Lernen, entdeckendes Lernen, Bildung der Imaginationsfähigkeit sowie soziales Lernen und Integration verbunden. Zentrales Anliegen ist es, dem heranwachsenden Menschen in seiner Entwicklung zur eigenständigen Persönlichkeit und zur Entfaltung seiner Individualität zu helfen.

Montessori-Pädagogik, Freinet-Pädagogik, der Jenaplan nach Peter Petersen, der Daltonplan nach Helen Parkhurst oder der Epochenunterricht der Waldorfschulen bieten klare methodisch-didaktische Konzepte und sind dabei doch flexibel: Je nach dem entwickelten Schulprofil bieten sie die Grundlage für die pädagogische Arbeit an der Schule oder sie bilden die Basis für die Entwicklung eines adaptierten oder neu erstellten Erziehungs- und Unterrichtskonzeptes. In beiden Fällen setzt die Integration eines dieser Modelle ein vorangehendes intensives Studium desselben voraus und erfordert die permanente Reflexion, ob die Intentionen der Schule auch eine Verwirklichung durch das gewählte pädagogische Modell erfahren können, ob also der gewählte Weg auch zum Ziel führt.

„In Freinets Schulmodell sind die Gedanken der Reformbewegung eingegangen, wie: die Kritik an der einseitig intellektuellen Schule, der Gedanke einer dem Wachstum der kindlichen Kräfte entsprechenden Schule, die Forderung der Selbsttätigkeit des Kindes im Unterricht und Schulleben, die besondere Beachtung der Handarbeit, die engere Verbindung von Schule und Leben. Der Zentralbegriff seiner Bestrebungen wurde die Arbeit, die ‚die Schule von morgen’ bestimmt. In ‚L’éducation du Travail’ erläutert er sie: ‚Von Arbeit sprechen wir immer dann, wenn das Tätigsein – ob physisch oder geistig – den natürlichen Bedürfnissen des Individuums entspricht und durch diese Tatsache allein schon eine gewisse Befriedigung verschafft. Im gegenteiligen Fall sprechen wir von Aufgabe und Pflicht, die man nur erfüllt, weil man dazu gezwungen wird.’ Daraus folgert die pädagogische Aufgabe, nicht anders gesehen als in der deutschen Arbeitsschule: ‚Wir bereiten ein erzieherisches Milieu, ein Arbeitsmaterial, entsprechende Arbeitstechniken und eine Organisation der gesamten Arbeit vor, die es den Kindern erlauben, sich so weit als möglich selbst zu verwirklichen, wenn der Lehrer ihnen dabei hilft oder sie wenigstens bei ihren tastenden Versuchen und ihrem Forschen nicht hindert.’“[5]

Die Freinet-Pädagogik ist eine lebendige Pädagogik im Sinne einer Bewegung, im Sinne einer pädagogischen Lebensführung, die ihre Aktualität gegenwärtig dadurch beweist, dass sie als Pädagogik der Publikation und als Pädagogik der Dokumentation den pädagogischen Rahmen bietet, um die Informations- und Kommunikationstechnologien in der Schule pädagogisch sinnvoll nutzen zu können.[6] Insofern kann Hansen-Schaberg zitiert werden, dass gemessen an systematischen akademisch-pädagogischen Konzeptionen mit der Freinet-Pädagogik kein originäres Werk entstanden ist: „Das pädagogische Vokabular ist aus anderen Kontexten entliehen worden, ein theoretischen Konzept existiert nicht, und Grundbegriffe sind nicht vorhanden.“[7]

Vorliegend sind die illustrativ geschriebenen Texte Célestin Freinets und Elise Freinets, vorbildlich ist im Einklang mit seinen pädagogischen Ideen stehende Biografie dieses großen Pädagogen, hervorzuheben ist die Effektivität der weltweiten Verbreitung der Freinet-Pädagogik.

 „Die größere Wirksamkeit hat das Schulkonzept Freinets erwiesen, das den aktivitätspädagogischen Ansatz dadurch instrumentalisiert, dass es die Druckerpresse zum Mittelpunkt der Schularbeit macht. Durch die Möglichkeit des Druckens (l’imprimerie á l’école) wird ein ganzheitlicher Bezug gestiftet, der das Lernen mit dem praktischen Tun verbindet – eingebettet in eine Fülle sozialer und kommunikativer Prozesse. Durch den Austausch der auf diese Weise entstehenden Dokumente mit anderen Schulen – auch des Auslands – entsteht ein lebendiger Erfahrungsaustausch als Resultat eigener Initiativen.“[8] Trotz ihrer eindeutigen Ausrichtung kann die Freinet-Pädagogik immer nur im Kontext der Bewegung der Reformpädagogik gesehen werden. Eine Auseinandersetzung mit den primären Repräsentanten der Reformpädagogik – „Reddie, Lietz, Ferrière, Geheeb, Montessori, Otto, Gaudig, Reichwein, Freinet – bedeutet, ins Zentrum der pädagogischen Fragestellung vorzudringen und Lösungsansätze zu erfahren, die über ihre Zeitbedingtheit hinaus einen gültigen Antwortkern in sich tragen. Im Rahmen der Reformpädagogik ist ein echtes pädagogisches Engagement spürbar, ein Einsatz des ganzen Menschen für die Erziehung des Heranwachsenden, …“[9]



[1]             Gaudig, Hugo: Die Schule im Dienste der werdenden Persönlichkeit. Erster Band. Leipzig 1922. S. 110.

[2]             Röhrs, Hermann: Die Reformpädagogik. Ursprung und Verlauf unter internationalem Aspekt.
                 Weinheim 1994, S. 332.

[3]             Röhrs, Hermann: a. a. O., S. 325.

[4]             Röhrs, Hermann: a. a. O., S. 335.

[5]             Scheibe, Wolfgang: Die reformpädagogische Bewegung 1900-1932. Eine Einführende Darstellung.
                 10. Aufl. Weinheim 1994. S. 201f.

[6]             Siehe dazu vor allem die beiden Artikel von J. Bronkhorst und Christian Laner in diesem Buch!

[7]             Hansen-Schaberg, Inge/Schonig, Bruno: Freinet-Pädagogik. Reformpädagogische Schulkonzepte.
                 Hohengehren 2002, S. 4.

[8]             Röhrs, Hermann: a.a.O., S. 54.

[9]             Röhrs, Hermann: a. a. O., S. 302.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert