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Die Idee vom lebenslangen Lernen muss überdacht und erweitert werden. Denn außer notwendigen Anpassungen an ein verändertes Berufsleben muss lebenslanges Lernen eine fortlaufende Entwicklung der Persönlichkeit jedes Menschen beinhalten, seines Wissens und seiner Fähigkeiten, doch auch seines Urteils- und Handlungsvermögens.

Harald Eichelberger

Lebensbegleitendes Lernen – was sonst?!

 

„Die Idee vom lebenslangen Lernen muss überdacht und erweitert werden. Denn außer notwendigen Anpassungen an ein verändertes Berufsleben muss lebenslanges Lernen eine fortlaufende Entwicklung der Persönlichkeit jedes Menschen beinhalten, seines Wissens und seiner Fähigkeiten, doch auch seines Urteils- und Handlungsvermögens.“ (Jaques Delors)

Also, was Ihnen noch vor kurzem in der Literatur und/oder in verschiedenen Medien als „lebenslanges Lernen“ begegnet sein könnte, heißt am Ende des Jahres des lebenslangen Lernens doch eher „lebensbegleitendes Lernen“. Die einjährige Diskussion hat dazu geführt, dass Lernen nicht so sehr mit „lebenslänglich“, sondern viel mehr mit „lebensbegleitend“ assoziiert werden soll. Doch auch „lebensbegleitendes Lernen“ ist keine neue Idee des Lernens. Schon vor dieser Wortschöpfung war der Mensch vorwiegend ein sogenanntes Lernwesen und hat auch „lebenslang“ und „lebensbegleitend“ gelernt. Somit ist lebensbegleitendes Lernen auch kein neues Lernkonzept, aber sehr wohl eine wesentliche Besinnung. Lebensbegleitendes Lernen ist Besinnung auf Lernen als Lebensprinzip, auf Bildung zur Lebensbewältigung, auf die Notwendigkeit der Bildung zur Alltagsgestaltung und auch darauf, dass es ein Recht auf Bildung für jeden Menschen gibt. Wodurch aber kam es zu dieser Besinnung?

Zum „Besinnungswandel“

Mögliche Auslöser der „Besinnung“ sind unter anderen

  • die im beruflichen Leben notwendig gewordene Flexibilität und die damit verbundene Notwendigkeit einer permanenten Weiterbildung,
  • die zunehmende Interkulturalität unserer Gesellschaft und die gleichzeitig notwendige Entwicklung zu Toleranz, Friedfähigkeit und gesteigerter Demokratiekultur,
  • die gestiegene Mobilität jedes einzelnen in fast allen Lebensbereichen und
  • last not least eine neue Bildungstechnologie selbst, die uns im sogenannten „open – and – distance – learning“ in Zukunft in einem immer stärkeren Ausmaß begegnen wird.

Es sind dies einige Entwicklungen, die die Idee des lebensbegleitenden Lernens beeinflusst haben. Ich versuche in der Folge, die Idee des lebensbegleitenden Lernens „pädagogisch-konzeptuell“ zu konkretisieren und zu kommentieren.

Stützen der Bildung

Die Idee des lebensbegleitenden Lernens ist im wahren Sinn des Wortes weitreichend, sie ist eine europäische Idee. Die Europäische Kommission hat vier Stützen als Grundlage der Bildung und damit auch des lebensbegleitenden Lernens erarbeitet und vorgestellt. Es sind dies: „Lernen zu lernen“, „Das Gelernte anwenden“, „Lernen für das Leben“ und „Zusammenleben lernen“.

Lernen zu lernen

Dieses Bildungsvorhaben bedingt eine radikale Veränderung unseres Bildungssystems. Mit Lernen lernen ist nicht nur die möglichst ökonomische Aneignung von Wissen gemeint, das Beherrschen von Lerntechniken, wie ich möglichst schnell, mit möglichst wenig Mühe möglichst viel Stoff aufnehmen kann oder wie ich eben die Idee des Nürnberger Trichters verbessern kann. Gut, wenn ich solche Lerntechniken beherrsche. Für lebensbegleitendes Lernen ist dies aber zu wenig. Soll Lernen mein Leben begleiten, so wird meine Fähigkeit des Lernens erstens eine sein müssen, die ich als lustvoll empfinde und nicht mit den Erinnerungen des in der Regel unlustigen Schulalltags so belastet ist, dass ich Situationen des Lernens eher vermeide als suche. Zweitens werde ich Lernen als eine Fähigkeit fühlen und empfinden müssen, die zum Aufbau und zur Integration meiner eigenen Persönlichkeit entscheidend beigetragen hat und noch immer beiträgt. In diesem Sinne muss ich Lernen selbst als eine Fähigkeit integriert haben, die ich mir einerseits in selbständiger und selbsttätiger Arbeit angeeignet und mich anderseits permanent in dem positiven Bewusstsein leben lässt, dass ich durch meine Initiative und Flexibilität meine Lebenssituation in einer bestimmten Lebensgemeinschaft verbessern kann.

Lebensbegleitendes Lernen ist somit auch eine Fähigkeit bewusst positiver Lebensführung und Lebenseinstellung und kann auch nur in einer Lernsituation erworben werden, in der initiatives Handeln, selbständiges und selbsttätiges Arbeiten und entdeckendes und forschendes Lernen im Vordergrund der didaktisch-methodischen Orientierung der Institution Schule stehen. Ich wage die These und bin zur Diskussion bereit: lebensbegleitendes Lernen wird der Lernende wahrscheinlich nur dann als die beschriebene Fähigkeit internalisieren können, wenn er über sein Lernen und damit auch über die Form und die Inhalte seines Lernens selbst bestimmen kann und sein Lernen immer ein vorwiegend selbstbestimmter Lebensprozess ist.

Die Besinnung auf lebensbegleitendes Lernen muss unsere Schulen in dem Sinne verändern, dass die Initiative des Lernenden, seine intellektuelle, soziale und emotionale Kreativität den schulischen Alltag bestimmen, Schule ein Ort des gemeinsamen Lernens und Lebens aller an der Schule Beteiligten – also der Eltern, Kinder und Lehrer – wird und die Schule befreit wird von Unterdrückungsritualen, wie Beurteilungen und „Sitzenbleiben“. Gleichzeitig muss sich Schule selbst als lernendes System erfassen und bestimmen können, das sich flexibel auf die Bedürfnisse und Interessen der Lernenden in den Bereichen der Schulorganisation und des didaktischen Systems einstellen kann. Doch Schule kann nur ein Lernendes System sein, wenn sie selbst als selbständige Einheit veränderbar und anpassbar ist. Innerhalb eines grundsätzlich protektionistisch ausgerichteten und hierarchisch geordneten System ist Schule selbst nicht lernfähig und wird in einem sehr eingeschränkten Maß ihre Schüler zum lebensbegleitenden Lernen erziehen können.

Das Gelernte anwenden

Sie kennen sicher den Satz: „Das lernen wir, weil wir es später im Leben einmal brauchen werden.“ Hand aufs Herz, wie viel haben wir schon gelernt, was wir nie wieder gebraucht haben, und wieviel haben wir umgekehrt in der Schule nicht gelernt, was wir sehr nötig gebraucht hätten? In der doch sehr schnelllebigen Zeit können wir nicht mehr mit lehrerhafter Sicherheit wissen, welches Wissen wir einmal brauchen werden. Diese Orientierung an der Zukunft funktioniert nicht mehr, wenn sie überhaupt jemals funktioniert hat. Wenn wir lebensbegleitendes Lernen als eine Besinnung verstehen, so wird lebensbegleitendes Lernen eine Orientierung des Lernens auf das Hier und Jetzt des Lernenden sein müssen. Eine (jetzt) notwendige Arbeit zu bewältigen, sich auf eine neu auftretende Situation einstellen zu können, im Team mit anderen Menschen an einer Aufgabe arbeiten zu können, etwas praktisch anwenden, etwas weiterentwickeln zu können, sind Fähigkeiten, die uns wahrscheinlich lebenslang begleiten werden, die wir jetzt und in der Zukunft brauchen werden. Wiederum: Soll Lernen lebensbegleitend werden, so muss ich diese Fähigkeiten in der Schule erwerben können, und es besteht kein Zweifel, dass ich diese Fähigkeiten im Leben brauchen werde.

Lernen für das Leben

Ich gehe von der pädagogischen These aus, dass die Schule primär der optimalen Entwicklung und Förderung des Kindes und seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten verpflichtet ist und dass eine in diesem Verständnis stehende kindorientierte Pädagogik die beste Voraussetzung ist, dass diese Kinder auch einmal die Gesellschaft, in die sie hineinwachsen, nach ihren eigenen Vorstellungen, nach ihrem Denken und Fühlen gestalten können. Wir sind in unserem Denken viel zu sehr daran gewöhnt, dass die Gesellschaft an die Institution Schule wie selbstverständlich Anforderungen stellen kann. Wahrscheinlich tun dies die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen sogar zu recht. Mindestens ebenso überlegenswert ist aber der pädagogische Gedankengang, dass Schule nicht dazu da ist, um ausschließlich Kinder auf die Gesellschaft, in der sie jetzt leben, vorzubereiten, sondern vielmehr um sie so zu erziehen, dass sie (die Kinder) diese Gesellschaft einmal nach ihren Vorstellungen formen und bilden können. In diesem Sinne sehe ich in der Schule keine Institution, die Kinder „für“ etwas erziehen soll, sondern eine Institution, die Kindern zu Selbständigkeit und Eigenständigkeit innerhalb der Gesellschaft, in der sie leben, verhelfen soll. Lebensbegleitendes Lernen heißt auch Bereitschaft zur Veränderung. Die Bereitschaft zur Veränderung bedingt hinwiederum den in einem hohem Maß lebenslang lernwilligen und lernfähigen Menschen.

Zusammenleben lernen

Die Gesellschaft der Gegenwart ist bereits eine interkulturelle Gesellschaft. Ich hoffe, dass die Gesellschaft der Zukunft eine integrative Gesellschaft sein wird. Es sind dies nur zwei Trends, die einen weiteren Wandel in unserer Gesellschaft kennzeichnen. Pädagogik muss auf diesen Wandel rechtzeitig reagieren, kann auch darauf reagieren und hat dies auch schon getan. Das Problem der Pädagogik besteht in diesem Zusammenhang vielmehr darin, noch immer viel zu wenig gehört zu werden. Probleme, die bei einem gemeinsamen Lernen von Menschen verschiedenartigster Herkunft einfach bestehen und Probleme, die beim gemeinsamen Lernen von behinderten und nichtbehinderten Menschen bestehen, sind Probleme aller Menschen und nicht nur die Probleme von „Ausländern“ und „Behinderten“. Lösungen, Konzepte und Strategien, die wir gemeinsam finden, sind Lösungen, Konzepte und Strategien für alle Menschen. Pädagogische Wortgewalt ist zu wenig, um die weitreichenden Ideen eines lebensbegleitenden Lernen in der gesellschaftlichen Realität durchgehend wirksam werden zu lassen. Vielmehr als neue Ideen in der Pädagogik braucht eine interkulturelle und integrative Gesellschaft den Mut, vorhandene pädagogische Vorstellungen einer individualisierenden Pädagogik endlich einmal umsetzen zu wollen. Ich nenne folgend Beispiele.

Pädagogische Konzepte zum lebensbegleitenden Lernen

Lernen als lebensbegleitende Fähigkeit bewußter Lebensführung, die ich mir einerseits in selbständiger und selbsttätiger Arbeit angeeignet habe, setzt pädagogische Konzepte voraus, die selbständige und selbsttätige Arbeit und somit eigenständige Arbeit an sich selbst ermöglichen, unterstützen und immer wieder weiterführen können. Lebensbegleitendes Lernen fordert die Möglichkeit, Schule nach den pädagogischen Konzepten zu gestalten, die selbstbestimmtes Lernen im oben genannten Sinn verwirklichen helfen können. Pädagogische Modelle, die sich als didaktische Grundlage anbieten, sind die heute weltweit verbreiteten fünf erfolgreichen Modelle der Reformpädagogik — Montessori-Pädagogik, Freinet-Pädagogik, Jenaplan-Pädagogik, Freinet-Pädagogik und Waldorfpädagogik. Mit diesen genannten Konzepten sind pädagogische Prinzipien, wie Selbständigkeit, Selbstbildung, Eigenverantwortung, Selbsttätigkeit, eigenständiges und autonomes Lernen, entdeckendes Lernen, Bildung der Imaginationsfähigkeit und soziales Lernen verbunden. Zentrales Anliegen ist es, den heranwachsenden Menschen in seiner Entwicklung zur eigenständigen Persönlichkeit und zur Entfaltung seiner Individualität zu helfen.

Weitere konstituierende und beschreibende Merkmale reformpädagogischer Bildungskonzepte finden wir, ohne schon Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen, in der Gestaltung einer anregenden Lernlandschaft, im fächerübergreifender Unterricht, in weitreichenden Mitbestimmungsmöglichkeiten des Kindes, im Angebot sogenannter Entwicklungsmaterialien, in einer persönlichkeitsbezogenen Leistungsbewertung und Leistungsbeurteilung und in einer prinzipiellen Betonung der Eigenaktivität. Montessori-Pädagogik, Freinet-Pädagogik, der Jenaplan nach Peter Petersen, der Daltonplan nach Helen Parkhurst oder der Epochenunterricht der Waldorfschulen bieten klare methodisch-didaktische Konzepte, die je nach dem zu entwickelnden Schulprofil, die Grundlage für die pädagogische Arbeit an der Schule bieten können oder auch als Basis für die Entwicklung eines effektiven Konzeptes des lebensbegleitendes Lernens dienen können.

Lebensbegleitendes Lernen bedeutet für die einzelne Schule (auch), dass sich diese öffnen können muss für die Bedürfnisse und Interessen der sie regional umgebenden Gesellschaft. Warum soll in Zukunft Schule nicht auch als Einrichtung der Erwachsenenbildung genutzt werden können? Warum kann Schule nicht als Modell demokratischer Lebensform mit weitgehenden Mitbestimmungsmöglichkeiten aller an der Schule beteiligten Personen geführt werden? Und warum sollte Schule nicht auch von privaten Vereinen genutzt werden können, die sich der Erziehung und Bildung der Kinder widmen. Es sind dies nur einige Ideen zur Öffnung der Schule, die uns zeigen, dass auch die einzelne Schule – und damit auch das gesamte Schulwesen – ihr Rollenverständnis bei der Verwirklichung eines Konzeptes des lebensbegleitenden Lernens radikal ändern wird müssen.

Um diesem Ziel einer nach den Prinzipien der Selbstbestimmung und Selbständigkeit gestalteten Schule näher zu kommen, bedarf es nicht einer Schulreform – im Sinne der Wiederherstellung eines Zustandes nach altem (hierarchisch gesteuerten) Muster – oder einer Schulerneuerung von oben herab, sondern einer Schulentwicklung, die den pädagogischen Prinzipien der reformpädagogischen Konzepte konsequent entspricht.

Schulentwicklung

Entwicklung der Schule beinhaltet grundsätzlich die Beteiligung und volle Einbeziehung der direkt Betroffenen, der Lehrerinnen und Lehrer, der Eltern und auch der Schüler. Sie sind es, die ihre eigene Schule entwickeln können und im Sinne einer Selbstbestimmung auch müssen. Erklärt man sich mit dieser Voraussetzung einverstanden, wird klar, dass sich Schulenwicklung nicht nur auch die Schulgestaltung einer einzelnen Schule beziehen wird, sondern – wie schon eingangs erwähnt worden ist – eine strukturelle Veränderung des gesamten Schul- und Bildungswesens des Staates erfordert.

Ich sehe in diesen Konzepten des selbstbestimmten Lernens eine unabdingbare Grundlage für das Erlernen der Fähigkeit des lebensbegleitenden Lernens. Als Voraussetzung dafür muss auch die Selbstbestimmung der (einzelnen) Bildungsinstitution Schule möglich werden. Die Entwicklung eines eigenständigen, didaktisch fundierten pädagogischen Konzeptes, die Organisation des inneren Bereiches der Schule, z.B. nach altersübergreifenden Lerngruppen an Stelle von starren Jahrgangsklassen, die Gestaltung des Lehrplanes, die Innovation eines Systems der Bewertung von Leistungen der Schüler und der Lehrer und auch die weitestgehende Kooperation zwischen Schulen können der autonomen Gestaltung einer Schule überantwortet werden. Lehrer, Eltern und Schüler sind durchaus in der Lage in einem Entwicklungsprozess, ihre eigene Schule nach ihren pädagogischen Vorstellungen und Notwendigkeiten zu gestalten, sofern sie dies auch tun wollen. Dazu ist Hilfe nötig. Doch: Wer sich nicht selbst entwickeln darf, wird nur schwerlich anderen Menschen in ihrer Entwicklung behilflich sein können, auch nicht in ihrer Entwicklung zur Fähigkeit eines lebensbegleitenden Lernens.

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