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Grundsätzlich wird im Rahmen der Schulkultur von Jenaplan-Schulen[1] dem üblichen „Leistungskult“ eine Leistungskultur entgegengestellt. Gegenüber dem in Schulen weitverbreiteten Belehrungsgespräch zwischen Lehrenden und Lernenden kultiviert die Jenaplan-Pädagogik vielfältige Formen des Lehrens, Lernens und Sich-Bildens. Das Arrangement der Bildungsgrundformen ermöglicht vor allem auch entdeckendes Lernen in einem rhythmischen Wochenarbeitsplan, der radikal mit der Starre des 45-Minuten-Stundentaktes herkömmlicher Schulen bricht. Erst hiermit ist überhaupt die Möglichkeit für die Entfaltung eines Schullebens gegeben. In der Darstellung der Strukturmerkmale der Jenaplan-Pädagogik lässt sich dies konkretisieren.

Seyfarth-Stubenrauch, Michael: Jenaplan-Pädagogik. In: Eichelberger, Harald: Lebendige Reformpädagogik. Innsbruck 1997. StudienVerlag

 


[1]     Siehe dazu: Petersen, Peter, Führungslehre des Unterrichts, Weinheim und Basel 1971 (10. Aufl.)

 

Michael Seyfarth-Stubenrauch

Jenaplan-Pädagogik. Historischer Hintergrund – Aktuelle Konzepte

Denn wer kann sich dann darüber wundern, dass Menschen, die zwei Jahrzehnte hindurch fast nur gestellte, umgrenzte, von außen gegebene Aufgaben, autoritativ gegeben, haben hinnehmen und machen müssen, um versetzt zu werden, Examen zu machen, „aufzusteigen“, das Vermögen verlieren, von sich aus anzugreifen, selber anzupacken, sich für ihr Leben verantwortlich zu fühlen?

Peter Petersen

Historischer Hintergrund

Im August 1991 wurde die Jenaplan-Schule in Jena, im deutschen Bundesland Thüringen, eröffnet. 41 Jahre nach der Schließung der Universitätsübungsschule nach dem Jenaplan – aber nur 11 Monate nach der Wiedervereinigung Deutschlands.

Diese zweite Gründung einer Schule nach dem reformpädagogischen Konzept des Jenaplans in Jena lag wiederum – wie auch schon in den Zwanzigerjahren – in einer Zeit des Wandels, einer Zeit mit deutlicher Aufbruchsstimmung. Waren es seinerzeit die allgemeine Not nach dem ersten Weltkrieg und die offensichtlichen Modernisierungsnotwendigkeiten nach dem kompletten Versagen des vormaligen politischen Obrigkeitssystems, insbesondere auch in Deutschland, die in vielen gesellschaftlich-politischen Bereichen die Veränderungen dynamisch voran­trieben[1] – so war es diesmal die hinter dem „eisernen Vorhang“ aufgestaute Ansammlung von sehr persönlich erlebter Unterdrückung,[2] die eine pädagogische Avantgarde nach einer die Befreiung der Person unterstützenden Form der Schularbeit suchen ließ.

Der Begründer der Jenaplan-Pädagogik, Peter Petersen, ist seinerzeit, genauer im Jahr 1923, nach Jena berufen worden. 1924 begann er, die bestehende Universitätsübungsschule nach seinen Erkenntnissen und schulpädagogischen Auffassungen umzuwandeln. Dies bedeutete einen radikalen Bruch mit der dort zuvor praktizierten Methode der sogenannten Herbartianer um Wilhelm Rein. Petersen diffamierte auch diese Schule als Pauk- und Drillanstalt.[3] Er brachte schon vielfältige Reformerfahrungen mit, hatte die Landerziehungsheimbewegung kennengelernt, war Schriftführer des Bundes für Schulreform gewesen, hatte aus nächster Nähe die Entwicklung der Hamburger Lebensgemeinschaftsschulen verfolgt, war Schulleiter der reformorientierten Lichtwarkschule gewesen, die eine reformierte Oberstufe werden sollte – auch dies sind „verschwundene Schulen“[4] bzw. „vergessene Alternativschulen“.[5]

Nach einer äußerst dynamischen Entwicklung des Jenaer Schulkonzeptes, einschließlich vielfältiger Formen parallel laufender Schulentwicklungsforschung an der Universitäts­übungsschule, stellte Petersen sein Konzept – das schon weitgehend bekannt geworden war – 1927 auf dem Weltkongress des New Education Fellowship (des Weltbundes zur Erneuerung der Erziehung) in Locarno der pädagogischen Weltöffentlichkeit vor.[6]

Er selbst hatte sich bereits 1925 mit seinem Buch „Die Neueuropäische Erziehungsbewegung“ als „Europäer“ geoutet und seine Vorstellungen von Pädagogik in den breiten Strom reformpädagogischer Anregungen hineingestellt, der ganz Europa in den – auch pädagogisch gesehen – „goldenen Twenties“ erfasst hatte.[7] Deshalb kann etwa Hermann Röhrs die Jenaplan-Pädagogik als eine „schöpferische Synthese“[8] der maßgeblichen Einzelansätze der Reformpädagogik der 20er Jahre bezeichnen. 1927 wurde dann in Locarno der Begriff „Jenaplan“ gefunden (nach Einordnung wie „Winetka-Plan“, „Dalton-Plan“[9]). Wie andere Reformkonzepte reüssierte die Jenaplan-Pädagogik in einer weltweiten Rezeption. „Der kleine Jenaplan“ wurde in zahlreichen Ländern rezipiert und ist nach der Auflagestärke bis heute der pädagogische Bestseller geblieben.

Umso unfassbarer war es für Petersen, dass seine Schule im Jahr 1950 auf der Basis des in der gerade gegründeten DDR verabschiedeten „Gesetzes über die Demokratisierung des Bildungswesens“ als ein „gefährliches Überbleibsel aus der Weimarer Republik“ geschlossen wurde.[10] Sicherlich hat niemand zum Zeitpunkt des Todes von Peter Petersen im März 1952 in Jena ahnen können, dass auch wesentlich später geborene Generationen von Pädagogen noch oder wieder nach dem Jenaplan „greifen“ würden. Erst recht nicht in Jena.

Während in der BRD in den 1950er Jahren noch einige Impulse von der weiter geführten Jenaplan-Pädagogik ausgingen,[11] wurde es langsam ganz ruhig um sie. Die proklamierte „Bildungskatastrophe“ (Picht, 1964) und die Lernziel­orientierung in der Didaktik (1970er Jahre) schienen reformpädagogische Ansätze auf Dauer obsolet werden zu lassen. Es wurde eine lediglich äußere Bildungs­reform intendiert, während die nötige innere Schulreform somit vernachlässigt wurde.

Eine sich schon zu dieser Zeit anbahnende Jenaplan-Renaissance in den Niederlanden, die sich bis zu Beginn der 1980er Jahre geradezu zu einer „Jenaplan-Bewegung“ erweiterte,[12] wurde zumindest in Deutschland lange Zeit kaum zur Kenntnis genommen. Erst als sich im Zuge der epochalen Veränderung in den modernen Gesellschaften, insbesondere auch hinsichtlich der Familien­strukturen sowie der Bedingungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen, ebenfalls die Schule mit den Problemen Disziplinlosigkeit, Interesselosigkeit, Konzentrationsunfähigkeit, Gewalt nicht mehr fertig wurde, erinnerte man sich der Vorarbeiten der Jenaplan-Pädagogik – im Interesse an einer humanen Schule –, die diesen Voraussetzungen möglicherweise besser Rechnung tragen könnte. In der „alten“ Bundesrepublik gab es zunächst im Bundesland Nordrhein-Westfalen und dort insbesondere im Regierungsbezirk Köln seit Beginn der 1980er Jahre den Ansatz für eine Renaissance der Jenaplan-Pädagogik.[13] Aber auch Ansätze der Montessori- sowie Freinet-Pädagogik bekamen im Zuge dieser Entwicklung wieder größere Bedeutung, teils in eigenständiger Schulkonzeption, teils als integrale Bestandteile etwa in Jenaplan-Schulen.

Die nächste Phase der Wiederentdeckung der Jenaplan-Pädagogik stand schon unter dem Eindruck des Rezeptionsinteresses in den neuen Bundesländern nach der deutschen Wiedervereinigung, wurde in ihrer Dynamik aber auch getragen durch ein ebenfalls aufkommendes Interesse an Reformpädagogik in den ehemals kommunistischen osteuropäischen Staaten (Ungarn, Tschechien, Rußland, Rumänien, Slowenien, Kroatien, Lettland etc.).[14] Neben den schulpädagogischen Fragen im engeren Sinne sowie der Suche nach Qualitätsstandards für aktuelle reformpädagogische Ansätze wurde diese Entwicklung sehr bald auch unter überprüfenden bildungspolitischen Gesichtspunkten und durchaus vor dem Hintergrund eines grundlegenden Modernisierungsbedarfs der post-industriellen – „post-modernen“ Gesellschaften diskutiert.

Es sind demnach zum einen im Wesentlichen vier Standards, denen reformpädagogische Konzepte, so auch aktuelle Konzepte der Jenaplan-Pädagogik, genügen müssen:

  1. Discovery Learning – Entdeckendes Lernen,
  2. Informality – vielfältige Formen des Lehrens, Lernens und Sich-Bildens,
  3. Integrated Day – weg von der Starre des 45-Minutentaktes im Unterricht,
  4. Familiy Grouping – Gemeinschaftserfahrungen in altersgemischten Lern­gruppen.[15]

Zum anderen kommt die Erweiterung des Anspruchs an aktuelle reform­pädagogische Ansätze aus dem Bereich der Bildungs- und umfassender Gesellschaftspolitik und steht im Zusammenhang mit einer massiven Kritik an der Effizienz und der Zukunftsfähigkeit herkömmlicher Schularbeit. Es ist geradezu eine bildungspolitische Bewegung aus Ministerien und Administrationen heraus im Ansatz sichtbar, um in dieser Zeit vielfältiger finanzpolitischer und allgemeinpolitischer Problemlagen in bildungspolitischer Hinsicht die Verkrustung herkömmlicher Schularbeit aufzubrechen und Elemente einer inneren Schulreform nicht nur zuzulassen, sondern geradezu zu fordern. So hatte der Ministerpräsident des deutschen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen 1992 eine Kommission „Zukunft der Bildung. Schule der Zukunft“ einberufen, die grundlegende Empfehlungen zu dieser Thematik erarbeiten sollte.

1995 veröffentlichte diese Bildungskommission die Ergebnisse ihrer Arbeit unter dem gleichen Titel,[16] wobei sich das Verzeichnis ihrer Mitglieder geradezu als ein „Who is Who“ der deutschen Wirtschaft, Gewerkschaft und Wissenschaft liest. Von Hilmar Kopper, dem Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank, geht es in der Auflistung über die Sprecher von Bertelsmann, VW, IBM Deutschland bis hin zu dem Umweltwissenschaftler Ernst Ulrich von Weizsäcker.[17] Vielleicht liegt es daran, dass ein deutliches Übergewicht von Nicht-Lehrern in dieser Kommission gegeben war, dass der 354 Seite starke Kommissionsbericht so überaus sympathisch erscheint. Allerdings haben natürlich Schulpädagogen mitgeschrieben und auch mitgedacht. So u.a. der „Guru“ bildungstheoretischer Didaktik in Deutschland: Wolfgang Klafki. Seine Zustimmung zum Ergebnis der Kommissionsarbeit hat Klafki nochmals in einem zusammenfassenden Aufsatz „Lernen für die Zukunft“ in Heft 2 der Zeitschrift „Die Deutsche Schule“ aus 1996 deutlich gemacht.[18]

Diese komprimierte Zusammenfassung liest sich hinsichtlich ihrer Grundausrichtung noch deutlicher als der Kommissionsbericht selbst wie eine modernisierte Fassung des historischen Entwurfs der Jenaplan-Pädagogik. Die Kommission empfiehlt so u.a.[19]

  • die Einrichtung einer 6-jährigen Grundschule,
  • die Auflösung des 45-Minuten-Stunden-Taktes,
  • die Ermöglichung „Verstehenden Lernens“ durch eine andere Rhythmisierung und ein anderes Arrangieren von Lernprozessen usw.

Folgende Kernaussagen sind in der Kommissionsarbeit besonders deutlich hervorgehoben. Im Schulleben einer Schule, die ein offenes„Haus des Lernens“ sein soll, gibt es als pädagogisch-anthropologisch und schulpädagogisch aus­gerichtete Zielkategorie einen neuen Begriff von Allgemeinbildung, nunmehr beschrieben mit den Begriffen „Schlüsselqualifikationen“. Während als Schlüsselprobleme die ökologische Problematik, das Problem Bevölkerungs­wachstum, Ungleichheit auf allen Ebenen (national, international), Vernetzungen, Informationsmedien, inter- und intrakulturelle Spannungen etc. genannt werden, soll die Entwicklung von Schlüsselqualifikationen wie Selbständigkeit, Kooperationsfähigkeit, fächerübergreifende Bildung (bzw. fächerübergreifendes Denken und Wissen) und Persönlichkeitsentwicklung (bzw. Identitätsbildung) zum einen dazu beitragen, schulische Erziehungs- und Bildungsprozesse wechselseitig überhaupt erst sinnvoll zu ermöglichen.

Zum anderen soll damit ein notwendiger Erneuerungs- sowie explizit auch ein erneuernder Demokratisierungsprozess in Schule und Gesellschaft in Gang gesetzt werden. Dazu sind nach Einschätzung der Kommission in der Schule u.a. Entdeckendes Lernen und Kreativität, vielfältige Formen des Lernens, integrierte statt separierte Lernprozesse sowie eine gleichsam familiäre Atmosphäre des Vertrauens und der freundschaftlichen Bezogenheit der Beteiligten (Lehrer, Schüler, Eltern) erforderlich. Dies ähnelt den schon genannten Begriffen (s.o.), die die Reformpädagogik im Hinblick auf eine Analyse internationaler schulpädagogischer Standards als Discovery Learning, Informality, Integrated Day und Family Grouping zusammenfasst.

Die beiden zentralen Forderungen der Bildungskommission, die Forderung nach Erarbeitung jener Schlüsselprobleme in einer veränderten Konzeption von Schulen sowie die Ermöglichung von Schlüsselqualifikationen als anthropologische und schulpädagogische Zielkategorien werden meines Erachtens derzeit von keinem anderen reformpädagogischen Schulkonzept besser erfüllt als von aktuellen Konzepten des Jenaplans. Das lässt sich anhand der Strukturmerkmale der Jenaplan-Pädagogik konkretisieren, dies vor allem auch, weil Jenaplan-Schulen immer schon Schulen unter den Bedingungen des öffentlichen Schulwesens waren.[20] Es sind Schulen für alle Kinder, wozu sich im historischen Jenaplan schon die Beschreibung als „Schulleben und Unterricht einer freien allgemeinen Volksschule nach den Grundsätzen neuer Erziehung[21] findet.

Aktuelle Konzepte

Grundsätzlich wird im Rahmen der Schulkultur von Jenaplan-Schulen[22] dem üblichen „Leistungskult“ eine Leistungskultur entgegengestellt. Gegenüber dem in Schulen weitverbreiteten Belehrungsgespräch zwischen Lehrenden und Lernenden kultiviert die Jenaplan-Pädagogik vielfältige Formen des Lehrens, Lernens und Sich-Bildens. Das Arrangement der Bildungsgrundformen ermöglicht vor allem auch entdeckendes Lernen in einem rhythmischen Wochenarbeitsplan, der radikal mit der Starre des 45-Minuten-Stundentaktes herkömmlicher Schulen bricht. Erst hiermit ist überhaupt die Möglichkeit für die Entfaltung eines Schullebens gegeben. In der Darstellung der Strukturmerkmale der Jenaplan-Pädagogik läßt sich dies konkretisieren.

Mit besonderer Bedeutung für das didaktische Konzept kultiviert die Jenaplan-Pädagogik in besonderer Weise das Prinzip der altersgemischten Stammgruppen anstelle von Jahrgangsklassen. Damit wird mit der Fiktion „homogener Lerngruppen“ aufgeräumt, es entstehen pädagogische Situationen, in denen die ganze Person gefordert wird in Prozessen des Helfens, Voneinanderlernens, des Aufeinander-Rücksichtsnehmens – es entsteht dadurch bereits im Stamm­gruppenraum die Struktur eines Schullebens und die Integration von Elementen wie etwa eines familienähnlichen Geschwisterlebens. Es ist aufgrund des Wandels der Kindheit heute, von der die Wissenschaften sprechen, nicht von der Hand zu weisen, wie entscheidend wichtig eine solche Veränderung des Schullebens ist – und zwar nicht nur aus Gründen der sozial-emotionalen Seite, sondern auch aus Gründen der kognitiv-rationalen Seite in der Unterstützung von Lernprozessen.

Damit verbunden ist vor allem eine gänzlich veränderte Haltung der Lehrerinnen und Lehrer, die nunmehr keine Chance haben, von der Existenz eines „Kollektivgehirns“ ihrer Klasse auszugehen, sondern die gezwungen sind, sich mit ihrem Lernarrangement auf die einzelne Schülerin und den einzelnen Schüler einzustellen.

Jenaplan-Schulen kultivieren weiterhin einen rhythmischen Wochen­arbeitsplan,[23] in dem viele Formen des Lehrens und Lernens integriert sind. So ist es möglich, das in Einführungs-, Übungs- und Niveaukursen Erfahrene konsequent zu verfolgen im Sinne des weiter unterstützten Sich-selbst-Bildens der Kinder und Jugendlichen. In dieser Weise kann ein Thema epochal in der gesamten Stammgruppe unter arbeitsteiligen Aspekten gemeinsam bewältigt werden – also das, was in herkömmlichen Schulen allenfalls einmal jährlich in der sogenannten „Projekt-Woche“ vorkommt (in manchen Schulen sogar nur alle zwei Jahre).

Diese Auffassung der Wochenplanarbeit im Jenaplan hat demzufolge die Perspektive einer konsequenten Öffnung der Lehr- und Lernformen im Hinblick auf „Informality“. Das bedeutet: Es gibt viele Formen des Lehrens und Lernens, nicht nur die eines allein produktorientierten Abarbeitens von Aufgaben, wozu die Form des Wochenplans in vielen Fällen herkömmlicher Schulpraxis herhalten muss.

Im Jenaplan ist deshalb etwa die „Freie Arbeit“ natürlicher Bestandteil des Unterrichts, aber eben nicht als zusätzliche „Stunde“ im Stundenplan, sondern als ein Unterrichtsprinzip. Dass dennoch die Erarbeitung der Anteile des Lehrplans bzw. der Rahmenrichtlinien der Fächer nicht verlorengeht, hängt nicht zuletzt mit der besonderen Inspiration des Wechsels von Kern- und Kursunterricht zusammen, wobei die Einrichtung auch jahrgangsübergreifender „Niveau“-Kurse sogar eine besondere Berücksichtigung von individuellen Fähigkeiten und Begabungen (etwa in einzelnen Fächern) ermöglicht.

In der Jenaplan-Pädagogik werden diese Prozesse einer Rhythmisierung der Schularbeit – gegenüber dem von Petersen so genannten „Fetzenstundenplan“ – noch durch die besondere Bedeutung der „Bildungsgrundformen“ im Jenaplan-Konzept gefördert. Gespräch, Spiel, Arbeit und Feier knüpfen dabei pädagogisch-anthropologisch an die Grundstruktur des menschlichen Aufwachsens an – gleichsam an die Stationen des Lebens –, obwohl gerade diese Erfahrungen aufgrund der heutigen Lebensformen im Erleben der Kinder oft fast völlig verschüttet sind.

In diesem Prozess einer reformpädagogisch ausgerichteten Schulerfahrung lassen Gemeinschaftserfahrungen für manche Kinder erst wieder authentische und erkennbar Lebensräume entstehen: Zeit wird erfahren, Stille wird erfahren, persönliche Zuwendung im Gespräch, gemeinsames Arbeiten, miteinander spielen (manche Kinder „können“ nicht mehr spielen) und schließlich in der Feier[24] die Möglichkeit, sich noch stärker dem „Anderen“ zu öffnen und offen zu sein für wirklich persönliche Begegnung, Toleranz und Verständnis für „den Anderen“ – Feier als Element existentiell-humanen Lebens und als Basis für die Entwicklung wirklichen Schullebens, authentischer Schulkultur.

Dies letztere hat in besonderer Weise zu tun mit der persönlichen Atmosphäre an Jenaplan-Schulen, denn sie sind stets und vor allem „Schulen unter der Idee der Erziehung.“[25]

Das heißt, dass alle schulpädagogischen Maßnahmen unter dem Primat der Erziehung stehen und sich nur dann rechtfertigen lassen, wenn sie dem Wissen um die Bedürfnisse der jungen aufwachsenden Menschen entsprechen.

Damit verbieten sich von vornherein rezeptologische, allein methoden­orientierte Einzelmaßnahmen, sofern sie sich nicht direkt in jenes übergreifende Prinzip einpassen. Daneben steht schließlich noch das Prinzip der „Ehrfurcht vor dem Leben.“[26] Ehrfurcht vor dem Leben ist hier gleichsam ein normativ-ethisches Korrektiv zu der wissenschaftlichen Herangehensweise auch und gerade der Jenaplan-Pädagogik an schulpädagogische Fragestellungen. Oft erfährt dieser Bereich geradezu eine Ergänzung bzw. ein Korrelat, wenn zum Beispiel die auch normativ-ethisch und pädagogisch gemeinte Forderung Pestalozzis, nie ein Kind mit einem anderen Kind, sondern leistungsorientiert immer nur mit sich selbst zu vergleichen – „Ich war mit den langsamsten geduldig; aber wenn eines etwas schlechter machte, als es dasselbe schon gemacht hatte, da war ich streng[27] –, durch Forschungen der Lern- und Entwicklungspsychologie zur Motivations­theorie wissenschaftlich untermauert werden kann.[28]

Insofern versteht es sich von selbst, dass die Jenaplan-Pädagogik auf Ziffernzensuren nach der Gauß’schen Normalverteilung, die selbst von Mathematikern[29] kritisiert wird, weitgehend verzichten möchte und diese durch – für die Kinder und Jugendlichen in jeder Hinsicht sehr wichtige – Zeugnisse in Form von Berichten über Lernfähigkeits- und Persönlichkeitsentwicklung ersetzt.

Der Begriff „Schulwohnstube“ geht ebenfalls auf Pestalozzi zurück. Der Lernumgebung in Jenaplan-Schulen kommt große Bedeutung zu, insbesondere Beachtung in Hinblick auf die ästhetische Wahrnehmung als Ausdruck einer Lebensform ist wichtiger Bestandteil in diesem Konzept einer Schulkultur. Allein ein Sofa in eine Klasse zu stellen, in der ansonsten nur frontal unterrichtet wird, bleibt ineffektives Stückwerk. Falls dann die „Stunden“ der „Freien Arbeit“ administrativen Sparmaßnahmen zum Opfer fallen, sollte besser wieder der Umzugswagen bestellt werden, weil dann das Sofa als Form der Belebung des Schullebens seine pädagogische Funktion verliert. Erst wenn auch as Unterrichtskonzept nicht mehr die Weiterführung der „Belehrungszelle“ erfordert, macht es Sinn, die klösterliche Kargheit zu dispensieren, die in manchen Klassensälen – in den meisten weiterführenden Schulen – heute noch immer existiert.

Die humanpsychologische Forschung weiß um den Motivationscharakter der Umgebung; grundlegend ist aber zunächst das Wissen um die Notwendigkeit der Befriedigung der Bedürfnisse nach Geborgenheit wie auch nach ästhetischer Wahrnehmung, um Erfahrungen einer Lebensform in der Schule überhaupt erst zu ermöglichen, die nicht nur äußerlich akzeptabel ist, sondern einem angemessenen Begriff von Schulkultur bzw. Schulleben auch inwendig zu entsprechen scheint.

Literatur

Chiout, Werner, Schulversuche in der Bundesrepublik Deutschland, Dortmund 1955

Döpp-Vorwald, Heinrich, Die Erziehungslehre Peter Petersens, 2. Aufl. Wuppertal 1969

Klafki, Wolfgang, Lernen für die Zukunft. In: Die Deutsche Schule, Heft 2, 1996

Klaßen, Theodor F.,/Seyfarth-Stubenrauch, Michael, Stellungnahme der Universität Gießen. In: Hessischer Kultusminister (Hrsg.), Im Gespräch mit dem Hessischen Kultusminister, Bd. 3, Wiesbaden 1992

Klaßen, Theodor F., Feste und Feier im Jenaplan, Heinsberg 1988

Klaßen, Theodor, F., Der Beitrag Peter Petersens zur Neueuropäischen Erziehungsbewegung. In: Rülcker, Tobias/Kaßner, Peter (Hrsg.), Peter Petersen: Antimoderne als Fortschritt? Frankfurt/M. 1992

Klaßen, Theodor, F., Die Jenaplan-Schulen-Schulkonzept unter der Idee und den Bedingungen des öffentlichen Schulwesens. In: Hermann Röhrs (Hrsg.), Die Schulen der Reformpädagogik heute, Düsseldorf 1986

Klaßen, Theodor, F., Stichwort: Jenaplan. In: Schmutzer, Ernst (Hrsg.), Reformpädagogik in Jena, Jena 1991

Maaz, Hans Joachim, Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR, Berlin 1990

Pehnke, Andreas/Röhrs, Hermann, (Hrsg.), Die Reform des Bildungswesens im Ost-West-Dialog, Frankfurt/M., Bern, New York, Paris 1994

Petersen, Peter/Wolff, Hans, Eine Grundschule nach den Grundsätzen der Lebensgemeinschaftsschulen, Weimar 1995

Petersen, Peter, Der kleine Jenaplan

Petersen, Peter, Führungslehre des Unterrichts, Weinheim und Basel 1971

Rödler, Klaus, Vergessene Alternativschulen. Geschichte und Praxis der Hamburger Gemeinschaftsschulen 1991 – 1933, Weinheim 1987

Röhrs, Hermann, Die Reformpädagogik. Ursprung und Verlauf in Europa, 2. Auflage, Hannover 1983

Seyfarth-Stubenrauch, Michael/Skiera, Ehrenhard, (Hrsg.), Reformpädagogik und Schulreform in Europa, Baltmannsweiler 1996

Skiera, Ehrenhard, Die Jenaplan-Bewegung in den Niederlanden, Weinheim 1982

Skiera, Ehrenhard, Schule ohne Klassen, Heinsberg 1985

Zum Autor

Dr. Michael Seyfarth-Stubenrauch war Diplompädagoge, Erziehungs­wissenschaftler, Leiter der Jenaplan-Forschungsstelle an und Akademischer Direktor der Universität Gießen und Vizepräsident der Gesellschaft für Jenaplan-Pädagogik in Deutschland.

 


[1]     Siehe dazu John, Gisela, Auszüge aus der Konzeption der Jenaplan-Schule Jena. In: Thilo Traub (Hrsg.): Jenaplan-Aktuelle Konzepte. Broschüre zur Erstinformation der Jenaplan-Forschungsstelle an der Justus-Liebig-Universität Gießen (Deutschland) 1995, S. 65ff., hier bes. S. 65

[2]     Siehe dazu: Hans Maaz, Joachim, Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR, Berlin 1990

[3]     Siehe dazu: Petersen Peter/Wolff, Hans, Eine Grundschule nach den Grundsätzen der Lebensgemeinschaftsschulen, Weimar 1995

[4]     Siehe dazu: Beitrag von Harald Eichelberger im vorliegenden Band mit Bezug auf reformpädagogische Ansätze bzw. Schulen in Österreich, S. 16ff. in diesem Buch

[5]     Siehe dazu: Rödler, Klaus, Vergessene Alternativschulen. Geschichte und Praxis der Hamburger Gemeinschaftsschulen 1991 – 1933, Weinheim 1987

[6]     Siehe dazu: Klaßen, Theodor F., Stichwort: Jenaplan. In: Schmutzer, Ernst (Hrsg.), Reformpädagogik in Jena, Jena 1991, S. 68ff., hier bes. S. 71ff.

[7]     Siehe dazu: Petersen, Peter, Die Neueuropäische Erziehungsbewegung, Weimar 1926 und Klaßen, Theodor F., Der Beitrag Peter Petersens zur Neueuropäischen Erziehungsbewegung. In: Rülcker, Tobias/Kaßner, Peter (Hrsg.), Peter Petersen: Antimoderne als Fortschritt?, Frankfurt/M. 1992, S. 51ff.

[8]     Siehe dazu: Röhrs, Hermann, Die Reformpädagogik. Ursprung und Verlauf in Europa, 2. Auflage, Hannover 1983

[9]     Es bestand die Übung, die Konzepte nach den Städten ihres Entstehens zu benennen; siehe dazu: Klaßen, Theodor F., Stichwort: Jenaplan. (siehe Anm. 6 ), S. 71

[10]   Siehe dazu: Klaßen, Theodor F., Die Jenaplan-Schulen-Schulkonzepte unter der Idee und den Bedingungen des öffentlichen Schulwesens. In: Röhrs, Hermann (Hrsg.), Die Schulen der Reformpädagogik heute. Düsseldorf 1986, S. 209 ff., hier bes. S. 216; siehe auch: Döpp-Vorwald, Heinrich, Die Erziehungslehre Peter Petersens. 2. Aufl., Wuppertal 1969, S. 189

[11]   Siehe dazu: Chiout, Werner, Schulversuche in der Bundesrepublik Deutschland, Dortmund 1955, S. 485

[12]   Siehe dazu: Skiera, Ehrenhard, Die Jenaplan-Bewegung in den Niederlanden, Weinheim 1982

[13]   Siehe dazu: Skiera, Ehrenhard, Schule ohne Klassen. Heinsberg 1985; siehe auch: Klaßen, Theodor F., Die Jenaplan-Schulkonzepte …, (siehe Anm. 10), S. 218

[14]   Siehe dazu: Seyfarth-Stubenrauch, Michael/Skiera, Ehrenhard (Hrsg.), Reformpädagogik und Schulreform in Europa, Baltmannsweiler 1996; siehe auch: Pehnke Andreas/Röhrs, Hermann (Hrsg.), Die Reform des Bildungswesens im Ost-West-Dialog. Frankfurt/M., Bern, New York, Paris 1994

[15]   Siehe dazu: Klaßen, Theodor F.,/Seyfarth-Stubenrauch, Michael, Stellungnahme der Universität Gießen. In: Hessischer Kultusminister (Hrsg.), Im Gespräch mit dem Hessischen Kultusminister, Bd. 3, Wiesbaden 1992, S. 13ff., hier S. 14f.

[16]   Bildungskommission Nordrhein-Westfalen (NRW) (Hrsg.), Zukunft der Bildung. Schule der Zukunft, Neuwied 1995

[17]   Bildungskommission Nordrhein-Westfalen (NRW) (Hrsg.), Zukunft …, S. 5f.

[18]   Siehe dazu: Klafki, Wolfgang, Lernen für die Zukunft. In: Die Deutsche Schule, Heft 2, 1996

[19]   Siehe für einen raschen Zugriff die „Zusammenfassung“. In: Bildungskommission NRW (Hrsg.), Zukunft …, (siehe Anm. 16), S. XI – XXX

[20]   Siehe dazu Titel bei: Klaßen, Theodor F., Die Jena-Plan-Schulen-Schulkonzepte unter der Idee und den Bedingungen des öffentlichen Schulwesens (siehe Anm. 10)

[21]   Siehe dazu: Petersen, Peter, Jena-Plan I. Schulleben und Unterricht einer freien allgemeinen Volksschule nach den Grundsätzen neuer Erziehung, Weimar 1930

[22]   Siehe dazu: Petersen, Peter, Führungslehre des Unterrichts, Weinheim und Basel 1971 (10. Aufl.)

[23]   Vgl. Petersen, Peter, Führungslehre des Unterrichts, S. 108ff.

[24]   Vgl. Klaßen, Theodor F., Feste und Feier im Jenaplan, Heinsberg 1988

[25]   Vgl. dazu Petersen, Peter, Der kleine Jenaplan, S. 7ff.; Petersen, Peter, Führungslehre des Unterrichts, bes. S. 9ff. u. S. 91ff.

[26]   Dieses Prinzip geht auf Albert Schweitzer zurück und taucht als Motiv in diversen Werken Petersens auf, vgl. z.B. Petersen, Peter, Jena. Plan III. Die Praxis der Schulen nach dem Jenaplan, Weimar 1934, Kap. 2

[27]   Pestalozzi, Johann Heinrich, Pestalozzis Brief an einen Freund über seinen Aufenthalt in Stans. In: Pestalozzi, Johann Heinrich, Kleine Schriften zur Volkserziehungs- und Menschenbildung, Hrsg. von: Dietrich, Theo, Bad Heilbrunn/OBB. 1968

[28]   Vgl. z.B. Sinn und Unsinn des Leistungsprinzips. Ein Symposion. München 1974. Darin besonders: Klafki, Wolfgang, Sinn und Unsinn des Leistungsprinzips in der Erziehung, S. 73ff. und Heckhausen, Heinz, Leistung – Wertgehalt und Wirksamkeit einer Handlungsmotivation und eines Zuteilungsprinzips, S. 169ff.

[29]   Siehe dazu: Ingenkamp, K. (Hrsg.), Tests in der Schulpraxis, Weinheim, Berlin, Basel 1971

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