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Maria Montessori hat in der Kindheit nicht nur die Vorbereitung auf ein späteres Lebensalter gesehen. Wie jedes Lebensalter des Menschen hat auch die Kindheit nach Maria Montessoris Ansicht ihre Eigenbedeutung. Maria Montessori hat diese Eigenbedeutung im Ausspruch eines kleinen Mädchens sehr wohl erkannt: Hilf mir, es selbst zu tun! Hilf mir, die Persönlichkeit zu werden, die ich sein kann!

Harald Eichelberger, Gitta Bintinger, Renate Paulis

Einleitung

Maria Montessori schuf ein Entwicklungskonzept auf der Grundlage der spontan arbeitenden schöpferischen Auffassungskraft des Kindes. Im Zentrum dieser Auffassungskraft steht der sogenannte „absorbierende Geist“, eine individuelle geistige Kraft, aus der Umwelt Erfahrungen aufzunehmen, gleichsam aufzusaugen, und sich dadurch selbst zu bilden. (Montessori. M., Schule des Kindes, Freiburg 1976, S. 3)

Maria Montessori bringt das Phänomen des „absorbierenden Geistes“ in einen engen Verständniszusammenhang mit den „sensiblen Phasen“. Bei diesen „…handelt es sich um besondere Empfänglichkeiten, die in der Entwicklung, das heißt im Kindesalter des Lebewesens, auftreten. Sie sind von vor- übergehender Dauer und dienen vor allem dazu, dem Wesen die Erwerbung einer bestimmten Fähigkeit zu ermöglichen. Sobald dies geschehen ist, klingt die betreffende Empfänglichkeit wieder ab“. (Montessori, M., Kinder sind anders, Stuttgart 1967 (1952), S. 47)

Gemäß der Folge von ,,sensiblen Perioden“, d. h. von Entwicklungsphasen besonderer Empfänglichkeit für bestimmte Umweltreize (Z. B. Sprache, gegenständliche Ordnungen, Mathematik, Problemzusammenhänge) wird es dem Kind in einer entsprechend „vorbereiteten Umgebung“ möglich, seine individuellen Begabungen selbst auszubilden und zu bilden.

Die „vorbereitete Umgebung“ ist zum einen jene äußere Struktur der Umgebung, in der die Kinder die Materialien und Anregungen finden, die sie gemäß ihres Entwicklungsstandes für die Bildung aller ihrer Fähigkeiten und Fertigkeiten aktuell brauchen, und zum anderen jene pädagogische Grundeinstellung der Lehrerin (des Lehrers), die Maria Montessori in der Abschieds- rede des Montessori-Kurses 1938 in Barcelona beschrieben hat:

Er muss das Kind. das arbeitet. respektieren. ohne es zu unterbrechen.
Er muss das Kin, das Fehler macht, respektieren, ohne es zu korrigieren.
Er muss das Kind respektieren, das sich ausruht und das die Arbeit an-erer betrachtet, ohne es zu stören und ohne es zur Arbeit zu zwingen.
Er muss aber unermüdlich sein, immer wieder denen Gegenstände anzubieten, die sie schon einmal abgelehnt haben und Fehler machen.
Und dies, indem er seine Umgebung mit seinem Sorgen belebt, mit seinem bedachten Schweigen, mit seinem sanften Wort; mit der Gegenwart jemandes, der lieb
t.“

(Internationaler Montessori-Kursus Barcelona, 1938)

Diese „vorbereitete Umgebung“. die nicht nur vorbereitet. sondern auch entspannt sein muss, ist für jede Art ,,offenen Unterrichtes“ unbedingt not wendig. Sie bietet durch die Klarheit in der Anordnung der didaktischen Materialien den Kindern einen notwendigen pädagogischen Rahmen, der ihnen Orientierung gibt und der selbständiges Arbeiten überhaupt erst ermöglicht.

Die „Polarisation der Aufmerksamkeit“ schließlich ist das Schlüsselphänomen, dessen Entdeckung Maria Montessori den Zugang zu einer wirksamen Unterstützung kindlicher Entwicklung gewiesen hat. Sie nennt dieses Phänomen „einen wichtigen Stützpunkt, auf dem sich die kindliche Arbeit aufbaut“. (Holtstiege, H., Modell Montessori, Freiburg 1968, S. 174)

Über die pädagogische Bedeutung dieses Phänomens schrieb Maria Montessori:

Dies ist offenbar der Schlüssel der ganzen Pädagogik: diese kostbaren Augenblicke der Konzentration zu erkennen, um sie beim Unterricht in Lesen, Schreiben, Rechnen, später in Grammatik, Mathematik und Fremdsprachen auszunützen. Alle Psychologen sind sich übrigens darin einig, dass es nur eine Art des Lehrens gibt: tiefstes Interesse und damit lebhafte und andauernde Aufmerksamkeit bei den Schülern zu erwecken.“ (Montessori, M., Das Kind in der Familie, Stuttgart 1924, S. 59)

Grundsätze der Montessori – Pädagogik

Freiarbeit

Maria Montessori stellt die Bedürfnisse des einzelnen Kindes in den Mittelpunkt des Unterrichts. Die freie Wahl der Arbeit ist grundlegendes Unterrichtsprinzip und führt Kinder zu Selbstbestimmung und Verantwortung. Das Kind kann aus dem Materialangebot frei wählen und bestimmen, wie lange, wie oft und mit wem es arbeiten möchte.

Bedingungen für die Freiarbeit:

  • Vorbereitete Umgebung;
  • didaktische Materialien und
  • Lehrerinnen mit der Denkweise Maria Montessoris.
Die Montessori-Lehrerin

Die Lehrerin ist vorwiegend Helferin: Sie unterstützt die ihrem Weg zur Persönlichkeitsentwicklung. Die richtige des Materials ist eine ihrer wichtigsten Aufgaben. Sie greift aber möglichst nicht in die Arbeit des Kindes ein.

Die Bedeutung der Entwicklungsmaterialien

„Die Hände sind das Werkzeug menschlicher Intelligenz.“ (Maria Montessori)

Maria Montessori entwickelte didaktische Materialien, die aufeinander bezogen sind und eine direkte oder indirekte Fehlerkontrolle enthalten.

  • Jedes Material vermittelt einen einzigen Lernschritt und ist auf eine Schwierigkeit begrenzt.
  • Alle Materialien erfordern ein Hantieren mit konkreten Gegenständen.
  • Bei der Arbeit mit dem Material vollbringt das Kind nicht nur kognitive Leistungen, vielmehr werden auch seine Sinne und Psyche angesprochen.
  • Die vorbereitete Umgebung, die Lehrerin und das Material bilden eine Einheit und schaffen die Möglichkeit für das Kind, sich seinen eigenen Gesetzen entsprechend entfalten zu können.
Die vorbereitete Umgebung

„Die Verantwortung der Erwachsenen ist so groß, da§ ihm daraus die Pflicht erwächst, mit aller wissenschaftlichen Gründlichkeit die seelischen Bedürfnisse des Kindes zu erforschen und ihnen eine entsprechende Umwelt zu bereiten.“ (Maria Montessori)

Maria Montessori schuf eine vorbereitete Umgebung, in der das Kind selbst tätig werden und damit den Aufbau seiner Persönlichkeit vollziehen kann.

Die Umgebung muss

  • dem Kind angepasst und entspannt,
  • geordnet und überschaubar sein und
  • zum Tätigwerden auffordern.

Nur in einer vorbereiteten Umgebung, in der sich das Kind frei für eine Tätigkeit entscheidet, kann es zur Polarisation der Aufmerksamkeit kommen.

Die Polarisation der Aufmerksamkeit

„So wie es beim Zirkel notwendig ist, einen Punkt festzulegen, damit der Kreis genau wird, so ist, beim Aufbau des Kindes die Aufmerksamkeit der wesentlichste Punkt.“ (Maria Montessori)

Maria Montessori beobachtete bei Kindern, die mit dem didaktischen Material arbeiten, ein Phänomen: Durch den aktiven Kontakt zwischen Kind und Gegenstand kommt es zur besonders intensiven Konzentration der Aufmerksamkeit.

Die freie Wahl der Tätigkeit in einer vorbereiteten Umgebung ist eine wichtige Vorbedingung für die Polarisation der Aufmerksamkeit.

Es gibt drei Stufen:

  • Vorbereitende Stufe – Kind wählt das Material.
  • Stufe der großen Arbeit – Kind arbeitet mit großer Konzentration.
  • Stufe der Verarbeitung – Kind räumt das Material weg und beendet die Arbeit: es ruht sich aus.
Die sensiblen Phasen

„Die Neugierde ist ein Anstoß zum Lernen.“ (Maria Montessori)

Maria Montessori beobachtete bei heranwachsenden Kindern sensible Phasen. In ihnen dominieren ganz bestimmte Bedürfnisse und prägen die kindlichen Interessensbereiche. Im Verlauf einer sensiblen Phase eignet sich das Kind Sachverhalte sehr leicht und ganzheitlich an.

Es handelt sich um besondere Empfänglichkeiten, die in der Entwicklung, das heißt im Kindesalter, auftreten. Sie sind von vorübergehender Dauer und dienen dazu, dem Wesen die Erwerbung einer bestimmten Fähigkeit zu ermöglichen. Sobald dies geschehen ist, klingt die betreffende Empfänglichkeit wieder ab.

Der absorbierende Geist

Kind und Erwachsener haben eine unterschiedliche Geistesform. Erwachsene nehmen ihr Wissen auch mit Hilfe der Intelligenz auf. Das Kind absorbiert es mit seinem ganzen psychischen Leben. Gerade darin äußert sich das qualitative Anderssein der frühkindlichen Intelligenz und ihrer Aktivitäten.

Kinder sind anders!

Maria Montessori hat in der Kindheit nicht nur die Vorbereitung auf ein späteres Lebensalter gesehen. Wie jedes Lebensalter des Menschen hat auch die Kindheit ihre Eigenbedeutung. Maria Montessori hat diese Eigenbedeutung im Ausspruch eines kleinen Mädchens sehr wohl erkannt: Hilf mir, es selbst zu tun! Hilf mir, die Persönlichkeit zu werden, die ich sein kann!

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