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Nach Adolphe Ferrière soll der Unterricht der Entwicklung des Kindes folgen – ein sehr aktueller Diskussionspunkt, wie auch heutige Erkenntnisse bestätigen. Die Kinder dort abzuholen, wo sie gerade sind, ist eine der Forderungen des Lehrplans für das Regelschulwesen. Francois Navillefordert Eigentätigkeit der Schüler – wiederum eine wesentliche methodische Erkenntnis, deren Anwendung sinnvoll ist für alle Kinder. Besonders aber Kinder von Migranten erarbeiten sich die neue Sprache und Fachwissen intensiver und auf lange Zeit hin effektiver durch Begreifen, durch eigene Erfahrung und durch selbsttätiges Lernen mittels Nachschlagetechnik oder speziell angefertigten Medien. Die Erhebung von Vorkenntnissen eines eventuell bereits durchlaufenen Alphabetisierungsprozesses und ggf. schulischer Vorbildung sind dafür anfangs notwendig.

Furch, Elisabeth: Reformpädagogische Ansätze in der Interkulturellen Pädagogik. In: Eichelberger, Harald: Lebendige Reformpädagogik. Innsbruck 1997, StudienVerlag

Reformpädagogische Ansätze in der Interkulturellen Pädagogik

Elisabeth Furch

Die Schule der Zukunft wird eine integrative Schule sein. Die Schule der Zukunft wird ebenso eine interkulturelle Schule sein.

Theo Boland

Das Wiener Schulwesen ist seit Jahrzehnten multikulturell geprägt. Jeder, der mit dem Schulwesen zu tun hatte, konnte in dieser Zeit unterschiedliche, aber jedenfalls sehr intensive persönliche Eindrücke über die multikulturelle Realität gewinnen. Es ist daher erstaunlich, dass Gedanken über Lernmotivation, Kreativität oder Individualität von Kindern noch immer wenig Eingang in die Praxis der Grundschulen gefunden haben.

Der Unterricht findet häufig lehrerzentriert statt, das Wohlbefinden der Zielgruppen – nämlich der Schülerinnen und Schüler – scheint Nebensache zu sein. Das Wort Reformpädagogik nimmt man im Regelschulbetrieb sehr selten in den Mund. Gerade in Klassen mit mehreren Kindern aus anderen Ländern und mit verschiedenen Muttersprachen hört man in der näheren Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Methoden im Feld der Interkulturellen Erziehung geradezu den Hilferuf, den das Gedankengut der Reformpädagogik erfüllen kann.

Leider kommen immer wieder Studierende der Pädagogischen Akademie des Bundes in Wien nach ihren ersten Dienstjahren desillusioniert, an der Ausbildung und den Ausbildnern zweifelnd, zurück und erschweren das weitere, fast missionarische Verbreiten der Grundsätze eines kindgerechten, an psycho­logischer Kindesentwicklung orientierten Unterrichts, der aber seit längerer Zeit schon im derzeit gültigen Lehrplan der Pflichtschulen sogar gefordert wird.

Die Diskrepanz zwischen Lehrerausbildung und des tagtäglich routinemäßig und leider immer wieder unreflektiert ablaufenden Schulalltags ist offensichtlich!

Studierende nehmen neues Gedankengut, das die Veränderung bisherigen Unterrichts fordert, ernsthaft und erfreut entgegen und versuchen tatsächlich, reformpädagogisches Gedankengut im Klassenverband ihrer zugewiesenen Praxisklasse umzusetzen. Die schon vorhandene Schulwirklichkeit steht ihnen oft skeptisch gegenüber.


Gedanken zur Verknüpfung von Interkultureller Pädagogik und Reformpädagogik

Die Reformpädagogik beschäftigt sich weitgehend mit der kindlichen Entwicklung, der sogenannten natürlichen Erziehung und mit einer Pädagogik, die eben von der Entwicklung des Kindes ausgeht. Gerade dieses Gedankengut sollte in der Interkulturellen Pädagogik als Voraussetzung für ein Lernen miteinander und voneinander Eingang finden.

Die Pädagogik erlebte im 19. Jahrhundert den Wandel von einer eher idealistischen Philosophie zu einer pragmatischen Schulpädagogik. Ende des 19. Jahrhunderts war die allgemeine Schulpflicht realisiert und die Analphabeten­quote im kaiserlichen Österreich minimal. Die Schulzeit verlängerte sich nach und nach, die Effektivität der schulischen Ausbildung wurde größer, die Ausbildung der Lehrer verbessert.

Nicht so in den Ländern, aus denen die zurzeit in Österreich lebenden Migrantenkinder zu uns gekommen sind. In der Türkei beispielsweise gibt es nach wie vor viele Kinder, die während der Sommerzeit kaum bis gar nicht zur Schule kommen, da sie Schafe hüten müssen oder bei der Ernte gebraucht werden. Ebenso können viele Kinder in Ostanatolien während der Winterzeit keine Schulen besuchen, da die Schneelage keine Transportmöglichkeit zulässt und die Schulen zu Fuß häufig nicht erreichbar sind. Die Schulpflicht nimmt nur einen Rahmen von fünf Jahren ein – ein wesentlicher Unterschied zu unserem üblichen Verständnis von Schullaufbahn.

An dieser Stelle sei erwähnt, dass das Wissen über die heimatliche Schulsituation solcher Kinder, die dann als Seiteneinsteiger während ihrer Schullaufbahn in österreichische Regelschulklassen aufgenommen werden, bei allen beteiligten Behörden und Lehrpersonen Grundbedingung ist, um das neu angekommene Kind in unser Schulsystem adäquat eingliedern und entsprechend fördern zu können.

Besonders spürbar ist Disharmonie, wenn Kinder mit besonderen Bedürfnissen von Lehrpersonen oft nicht adäquat beachtet oder verstanden werden. Kinder mit anderer Muttersprache als der Unterrichtssprache benötigen verstärkt individuelle Betreuung, damit ihre innere Harmonie annähernd erhalten bleibt. Dies wäre die Voraussetzung für eine möglichst gefühlvolle Integration dieser Kinder, ohne ihnen ihre Identität zu nehmen.

Die Innere Schulreform veränderte die Unterrichtsmethode. Pestalozzisreformpädagogischen Ideen waren bahnbrechend. Er forderte u.a. Anschauungs­unterricht, der eine unerlässliche Methode des Unterrichtens in multikulturell zusammengesetzten Lerngruppen ist. Während des Alphabetisierungsprozesses ist das Lernen in der Zweitsprache ohne das Prinzip der Anschaulichkeit und die ohne Berücksichtigung der Schülerindividualität kaum möglich. Kinder, die während ihrer Schullaufbahn in eine bestehende Lerngruppe einsteigen müssen und mit der hier üblichen Unterrichtssprache bis dahin kaum bis gar nicht konfrontiert worden waren, benötigen außerdem spezielle Materialien mit einem hohen Grad an Anschaulichkeit.

Nach Adolphe Ferrièresoll der Unterricht der Entwicklung des Kindes folgen – ein sehr aktueller Diskussionspunkt, wie auch heutige Erkenntnisse bestätigen. Die Kinder dort abzuholen, wo sie gerade sind, ist eine der Forderungen des Lehrplans für das Regelschulwesen. Francois Navillefordert Eigentätigkeit der Schüler – wiederum eine wesentliche methodische Erkenntnis, deren Anwendung sinnvoll ist für alle Kinder. Besonders aber Kinder von Migranten erarbeiten sich die neue Sprache und Fachwissen intensiver und auf lange Zeit hin effektiver durch Begreifen, durch eigene Erfahrung und durch selbsttätiges Lernen mittels Nachschlagetechnik oder speziell angefertigten Medien. Die Erhebung von Vorkenntnissen eines eventuell bereits durchlaufenen Alphabetisierungsprozesses und ggf. schulischer Vorbildung sind dafür anfangs notwendig.

Schon Francois Naville sorgte für eine realitätsnahe Lehreraus- und Fortbildung. Sie ist notwendig, um auf aktuelle Ereignisse und Situationen im Schulumfeld zu reagieren. Man kann nicht einfach voraussetzen, dass Lehrerinnen und Lehrer unentwegt in der Lage sind, sich zusätzlich zu ihrem Schulalltag weiterzubilden. Sensible Bereiche, und dazu zähle ich den Umgang mit Kindern anderer Muttersprache als der Unterrichtssprache, können grundlegend am besten während der Ausbildung von Studierenden zu Grundschul-, Sonder- oder Mittelstufenlehrerinnen und –lehrern vermittelt werden.

Immer mehr in den Mittelpunkt der Interkulturellen Pädagogikrückt die Erkenntnis einer Pädagogik vom Kinde aus. Migranten- oder Flüchtlingskinder können ausschließlich mit Rücksicht auf ihren jeweiligen sozialen, ökonomischen und psychischen Hintergrund in einem für sie völlig neuen Land, einer fremden Kultur schulische Erfolge erringen. Lebensschicksale können durch Humanität und Hintergrundwissen der Bezugspersonen in der neuen Heimat positiv beeinflusst werden.

Berthold Otto beispielsweise meinte 1906 völlig zu Recht, dass das Kind in seinen Anforderungen an seine Umwelt bzw. an sich selbst streng sei. Migrantenkinder wollen gleichberechtigt und gleich behandelt werden. Sie freuen sich, wenn sie bald nach ihrer neuen Schul- und Klassenzugehörigkeit die gleichen Schulbücher, Hefte und Lernmaterialien zur Verfügung haben wie die Schulkameraden im Klassenverband. Sie sind selbstkritisch genug und bemerken sehr rasch ihre Grenzen. Besonders die Sprachbarriere erleben sie sehr deutlich, und oft sind diese Kinder anfangs verschreckt, manche verstummen sogar für mehrere Wochen oder Monate. Das müsste nicht sein.

Maria Montessori weist in ihren Werken ausdrücklich auf den hohen Stellenwert der Individualität des Kindes hin und fordert eine radikale Änderung der pädagogischen Maßstäbe. Sie zweifelt sogar an sich selbst, an der Sinn­haftigkeit der Veränderung der Pädagogik, die ja wiederum nur von Erwachsenen gesehen und umgesetzt wird und nicht eigentlich vom Kinde selbst ausgeht.

Auch hier ist der Appell, auf die Lernbereitschaft einzugehen, die vom kindlichen Gefühlsleben ausgeht. Migrantenkinder sollten nicht mit denselben Maßstäben gemessen werden wie die anderen Kinder der Lerngruppe: Sie brauchen anfangs viel Zeit, um sich einzugewöhnen und in der neuen häuslichen und schulischen Umgebung orientieren zu können. Erst wenn sich ein Kind wohlfühlt und in der Unterrichtssprache einigermaßen ausdrücken kann, getraut es sich auch, seine persönlichen Anliegen, sein Wissen auszudrücken und seine Gefühle preiszugeben. Nun beginnt das Kind ganz von selbst, sich weiter zu entwickeln, Neues aufzunehmen und Interesse an verschiedenen Themen und Dingen zu zeigen und in der neuen Sprache zu sprechen, zu diskutieren und kreativ zu sein.

Schulreformkonzepte aus dem Blickwinkel Interkultureller Pädagogik

John Deweystellte in seiner Laborschule in Chicago zentrale Überlegungen bezüglich einer Schulreform an, die durchaus für eine Schule mit einem hohen Prozentsatz an Migrantenkindern geeignet erscheinen:

  • Die Verbindung zwischen Schule und dem Leben des Kindes soll hergestellt werden.
  • Lehrinhalte sollen zentrale Bedeutung für das Kind haben, also aus der Lebenswelt des Kindes stammen.
  • Der Bezug der Fähigkeiten Lesen, Schreiben, Rechnen zum täglichen Leben soll hergestellt werden.
  • Die Individualisierung der schulischen Erziehung soll im Mittelpunkt stehen.
  • Praktische Tätigkeit – verstanden als Selbsttätigkeit – soll Grundlage jeglichen Lernens darstellen.
  • ein inniges Lehrer-Schüler-Verhältnis herrschen sollte,
  • Lösungen durch selbstgewählte Ziele auf selbstgewählten Wegen angestrebt werden,
  • Lehrer anregen, darstellen und den Gemeinschaftssinn der Kinder wecken sollten,
  • lebendiges Interesse der Kinder immer wieder geweckt werden sollte,
  • das offene, zwanglose Gespräch eine der wichtigsten Lehrformen sein sollte,
  • die durch die Kinder gemachten Gesetze Strafen und Verbote des Lehrers ersetzen,
  • das Prinzip der Toleranz wesentlich ist,
  • Gesamtunterricht im Vordergrund steht,
  • die manuelle Tätigkeit nur dann wesentlich ist, wenn sie zur Vertiefung und Lösung geistiger Fragen notwendig ist.
    • Wahrung der Individualität und Kreativität,
    • die Steigerung des Lernvermögens und
    • die Förderung der Selbsttätigkeit der Schülerinnen und Schüler.
    • „Konzentration auf das Wesentliche,
    • Lebenswelt verstärken,
    • Pädagogische Handlungseinheit Schule,
    • Binnenstruktur an den Schulen aufbauen.“[5]
    • „Der Weg zum Wissen gewinnt gegenüber dem Wissen an Bedeutung,
    • Ausrichtung auf lebensbegleitendes Lernen,
    • Aktives, eigenverantwortetes, autonomes Lernen fördern,
    • fächerübergreifendes Lernen zum Prinzip machen,
    • Stärkung der Schule als pädagogische Handlungseinheit,
    • Schulpartnerschaft als gelebte Demokratie (Partizipation aller am Schulleben Beteiligten und aller Betroffenen).“[6]

Diese Punkte erinnern sehr stark an die pädagogischen Grundsätze Pestalozzis. John Dewey proklamiert weiters „learning by doing“, aber gezielt praktisches oder zweckrationales Handeln stehen im Vordergrund, Zielgerichtetheit und Effektivität des Handelns sind wesentlich.

Später entwickelte sich aus diesem Schulmodell die Projektmethode[1]. Sie sieht den praktischen Anlass als zentralen Ausgangspunkt des Projekts – und dieser ist auch für den Bereich der Interkulturellen Pädagogik von zentraler Bedeutung. Die Stoffauswahl muss dem Entwicklungsstand des Kindes entsprechen, die Unterrichtsmaterialien sollten anschaulich, klar definierbar und interessant arrangiert sein.

Peter Petersen geht einen Schritt weiter, wenn er meint:

Die Schule als Ganzes, nicht der einzelne Lehrer oder der Unterricht, muss wirken, die Schule als pädagogisch gestalteter Zusammenhang. Unterricht ist eine Funktion des gelingenden Schullebens, nicht etwa umgekehrt; die grundlegende Frage der Reform ist daher: Was können wir aus den gegebenen Bedingungen machen, der Soziabilität der Schule, aber auch ihres Umfeldes, um die pädagogischen Forderungen nach „pädagogischen Gesichtspunkten“ aufzubauen, […].“[2]

In diesem Zitat spricht Peter Petersen den Aspekt sozialen Handelns, den Bereich der Gemeinsamkeit und des Miteinanders an. In einem solchen Schulleben, wo Gemeinsames im Mittelpunkt steht, ist es für Kinder aus anderen Ländern angenehmer, sich in die für sie völlig neue Umgebung einzuleben, sich wohl zu fühlen und rascher Freunde zu finden.

Dieser „organischen“ Lösung entspricht die Gestaltung der Tage und Wochen im Schulleben: Statt eines in einzelne Fachstunden zerstückelten Tages-Stundenplans kennt die Jenaplan-Schule nur einen flexiblen Wochenarbeitsplan, der Zeiteinheiten vorsieht, aber keine starren Stundentakte. Die Unterrichts­gestaltung kann weit mehr inhaltlich auf die jeweilige pädagogische Situation reagieren, als dies in der Stoffverteilung der Normalschule möglich ist. Die hauptsächliche Unterrichtsform ist die selbsttätige Gruppenarbeit, die durch Kurse ergänzt werden kann, in denen vermittelt wird, was die Gruppenarbeit selbst nicht hervorbringt. Außerdem kann hier die Verschiedenheit der Begabungen besser berücksichtigt werden als in der Stammgruppe, die nicht intern differenziert ist.

Das Schulleben komplettiert die Konstruktion. Gemeint ist die Beteiligung der Eltern an der schulischen Arbeit in der „Schulgemeinde“, die besondere Bedeutung von Festen und Feiern, die der Gemeinschaftsbildung dienen, und nicht zuletzt die ästhetische Gestaltung des Schulraumes, durch die die Schule zum Wohnraum werden soll.[3]

Genau dieses Konzept weist sowohl auf Begabungen als auch auf Defizite von Migrantenkindern hin, lässt ihnen aber gleichzeitig Raum zur selbsttätigen Verringerung ihrer erfahrungsgemäß zumeist sprachlichen Verständigungs­schwierigkeiten in der neuen Sprache. Hinzuweisen wäre auch auf den Aspekt der intensiv gepflegten Zusammenarbeit mit Migranteneltern, der in unseren Schulen leider noch viel zu wenig beachtet wird. Durch enge Beziehung zu den häufig mit Behörden- und Schwellenangst behafteten Eltern würden zahlreiche Missverständnisse und Unklarheiten erst gar nicht entstehen. Selbstverständlich muss dabei an eine Dolmetschtätigkeit gedacht werden – sie ist in den meisten Fällen erforderlich für eine klare und eindeutige Verständigung.

H. Scharrelmann machte sich 1912 Gedanken über eine sogenannte Arbeitsschule. Dabei spricht er von einer Umgestaltung der lehrer- und lehrplanzentrierten Schule zugunsten einer Schulreform, bei der

Hier findet man weitere Grundsätze der Interkulturellen Pädagogik. Besonders das Prinzip der Toleranz im gegenseitigen Sinn müsste in Klassen mit Kindern aus verschiedenen Ländern vorherrschen. Das offene, zwanglose Gespräch muss in solchen Klassen als bedeutsamer Bestandteil des Spracherwerbs betrachtet werden. Nur durch das Gefühl von Annahme und Ebenbürtigkeit, der Gleich­wertigkeit, Chancengleichheit und dem gegenseitigen Verständnis kann sich ein Kind aus einem anderen Land, mit einer anderen Muttersprache und mit einer anderen Kultur eingliedern und wohl fühlen.

H. Scharrelmann beschreibt weiters allgemeine Prinzipien der Schulreform und Regeln des Unterrichts. Die Selbsttätigkeit des Kindes steht im Mittelpunkt. Es soll Gelegenheitsunterricht und keinen herkömmlichen Fächerunterricht geben – ähnlich Berthold Ottos Vorstellungen von Unterricht. B. Otto geht von der Neugier der Kinder aus. Selbstverständlich sollten Fragen der Kinder Schlüssel­situationen für Lernvorhaben sein.

Interkulturelle Pädagogik und Montessori-Pädagogik

Durch die freie Wahl unterschiedlicher Materialien in der Montessori-Pädagogik hat ein Kind, das sich sprachlich noch nicht sehr differenziert ausdrücken kann, die Möglichkeit, sich selbständig Wissen zu verschaffen, ohne übermäßig kommunizieren zu müssen. Da besonders Seiteneinsteiger – das sind Kinder, die während ihrer Schullaufbahn aus einem anderen Land kommend, in unser Schulsystem eingegliedert werden – sich anfangs intensiver und lieber mit mathematischen Fragestellungen beschäftigen, kommen die für diesen Bereich von Maria Montessori entwickelten didaktischen Materialien diesen Kindern sehr entgegen.

Von Maria Montessori geprägte Begriffe wie die Vorbereitete Umgebung die Schaffung einer kindgerechten, anregenden und optisch ansprechenden Lernumgebung –, dieSensiblen Phasen des Kindesoder die Polarisation der Aufmerksamkeit müssten jeder zukünftigen Lehrerin und jedem zukünftigen Lehrer im Zusammenhang mit Migrantenkindern geläufig sein. Diese und viele andere Gedanken der Montessori-Pädagogik sind meines Erachtens Vor­aussetzung für den integrierenden Umgang mit Migrantenkindern in den Schulen.

In einer Montessori-Klasse ist die Lehrperson für die Organisation des Unterrichtsablaufs und für die knappe Einführung in den richtigen Gebrauch der didaktischen Materialien verantwortlich. Ebenso zuständig ist die Lehrperson für Fragen der Leistungsbeurteilung, wobei es keinerlei Zensuren, sondern Pensenbücher für jeden Schüler gibt. Darin wird die erfolgreiche Beendigung einer Arbeit bestätigt und weitere Übungsschritte festgelegt. Für Lernende mit noch nicht so guten Kenntnissen in der Zweit- oder Zielsprache oder mit anderen Entwicklungs- oder Lerndefiziten würden sich Pensenbücher besonders gut eignen, da sie die Möglichkeit bieten, den Lernprozess für Kinder und transparent zu machen.

Interkulturelle Pädagogik und der Dalton-Plan

Die amerikanische Lehrerin Helen Parkhurst (1887 – 1959) suchte ebenfalls in den USA nach Wegen zu Effizienz im Unterricht an einer Landschule. Sie begann mit der Errichtung von subject corners und den dazu notwendigen Lehr- und Lernmitteln. Die Schüler arbeiten selbständig unter Beratung des Lehrers und nach individuell zusammengestellten Arbeitsplänen. Maria Montessoris didaktische Ideen und deren Erziehungsdenken waren ihr durchaus bekannt und beeinflussten sehr stark ihre Aktivitäten.

Ihre unterrichtlichen Ziele waren

Freiheit, Zusammenarbeit und Selbständigkeit sind Grundprinzipien des Konzepts im von H. Parkhurst ins Leben gerufenen Dalton-Plans.

Der Daltonplan-Lehrer überprüft die individuell oder in Gruppenarbeit erreichten Lernergebnisse mittels Kontrollkarten. Aber auch der gemeinsame, konventionell gehaltene Klassenunterricht hat seinen Platz, beispielsweise in den Bereichen Lesen, Leibesübungen und Sachunterricht und bei der Vorstellung von neuen Lernzielen. Grundsätzlich jedoch wird auch in diesen Gegenständen auf die Interessen und Bedürfnisse der Kinder eingegangen. Besonderes Augenmerk wird auf die selbst erarbeiteten Stoffgebiete im Sachunterricht gelegt. Tests zu Schuljahresbeginn machen den aktuellen Wissensstand deutlich. Selbst zu entscheiden haben die Schüler über Lerntempo, die Abfolge der Arbeitsschritte in Absprache mit dem Lehrer, über die Absolvierung des Kernprogramms mit seinen Kursen und über den Umfang der häuslichen Arbeiten.

Der Lehrer hat beratende und begleitende Funktion. Die Lehrkraft soll jederzeit helfen und informieren, und, wenn nötig, auch konventionell Stoff vermitteln. Ein kontinuierlicher Aufbau der Selbständigkeit der Kinder ist notwendig, um die Fähigkeit zu erlangen, den Wochenplan zur Gänze zu bewältigen.

Auch hier findet man viele Möglichkeiten für eine sinnvolle Integration von Kindern mit nichtdeutscher Muttersprache. Besonders die Haltung der Lehrperson als helfende Kraft ist für solche Kinder unbedingt erforderlich, auch das individualisierende Lernen hilft diesen Kindern ganz wesentlich, ihren Weg hin zu einer hohen Sprachkompetenz, die für ihre weitere Schullaufbahn nützlich ist, zu finden.

Abschließend ist noch ein Grundsatz von Helen Parkhurst und den Anhängern der Daltonplan-Methode erwähnenswert: Der Schüler lernt umso weniger, als der Lehrer lehrt! Ein Leitsatz für die Lehrerbildung, oder?

Interkulturelle Pädagogik und Freinet-Pädagogik

Die französische Schule wurde durch Célestin Freinet seit dem Jahre 1915 wesentlich umgewandelt. Seine einklassige Dorfschule wurde in eine kleine Druckerei umgestaltet, wo seine Schüler ihre Lesetexte selbst herstellten. Seine Idee war zur damaligen Zeit absolut bahnbrechend!

Weiters lehnt C. Freinet die herkömmliche Arbeit mit Lehrbüchern ab. Diesen Gedanken greifen heute immer wieder Lehrerinnen und Lehrer in Österreichs Schulen auf, da sie mit Büchern in der derzeit laufenden Schulbuchaktion unzufrieden sind. Besonders für Kinder mit besonderen Bedürfnissen, wie zum Beispiel für Kinder mit Defiziten im Verstehen und Anwenden unserer Unterrichtssprache, eigenen sich nur einige wenige der angebotenen Schulbücher. Zu viel an Text, zu wenig Veranschaulichung und zu schwieriger Satzbau lassen diese Kinder immer wieder ihre sprachlichen Defizite spüren und schlussendlich das Buch weglegen.

Bei sogenannten Klassenversammlungen in Freinet-Klassenwird jede Woche ein gemeinsamer Arbeitsplan festgelegt. Zusätzlich gibt es einen individuellen Plan, abgestimmt auf die Notwendigkeiten und Bedürfnisse jedes einzelnen Kindes – ein unbedingtes Muss bei Beachtung der Grundsätze „Interkultureller Erziehung“!

Die Raumgestaltung erfolgt durch Arbeitsecken, Ateliers – ausgestattet mit Werkzeug – und den jeweils nötigen Materialien. Die Lernumwelt muss möglichst anregend gestaltet werden. Bezogen auf den Bereich der Sozialformen ist zu sagen, dass grundsätzlich kooperativer Unterricht stattfindet, es wird in Partnerschaft, in Gruppen oder einzeln gearbeitet. Es gibt überdies eine Arbeitsbücherei, Versuchs-, Nachschlage-, Arbeitskarteien oder Sachhefte sowie Lernprogramme speziell im Bereich des Sprach-, Sach- und Rechenunterrichts.

Interkulturelle Pädagogik und der Jenaplan

Peter Petersen(1884 – 1952) schloss viele reformpädagogische Ideen und Anregungen in seinem pädagogischen Konzept zusammen. Lernspiele, Gesamtunterricht, Schulgemeinde, Kurssystem, Projektmethode, arbeits­unterrichtliche und gruppenunterrichtliche Verfahren sollten ein natürliches und spontanes Lernen ermöglichen. Lernen soll in allerhöchstem Maße von der Wirklichkeit abhängig sein, auch von der Gemütswelt und vom emotionalen Sein.

Petersen vertrat ein Unterrichtssystem, das vom Kinde ausgeht, individuelle Anlagen fördert und sich gegen das Jahrgangsklassensystem ausspricht. Es gibt Stammgruppen und eine Schulgemeinde mit Patenschaften, Kreisgespräche, Feste und Feiern.

In Schulen mit hohem Prozentanteil von Kindern aus anderen Ländern ist es oft gar nicht anders möglich, als dass die schon früher eingestiegenen, meist älteren Kinder die Neuankömmlinge im Verständnis von neuem Lernstoff unterweisen, ihnen immer wieder auch als kleine Dolmetscher weiterhelfen, den anders­ sprechenden Lehrer und Kameraden verstehen zu lernen. Verständigung über allerlei Grenzen hinweg ist erforderlich und wird dadurch ermöglicht. Patenschaften werden so innerhalb der Schule zwischen älteren und jüngeren Schülern gefördert und gelebt. Feiern sollen das Hineinwachsen der jungen oder neu hinzugekommenen Kinder – natürlich auch der Seiteneinsteigerkinder – in die Schulgemeinde ermöglichen und forcieren.

Wochenanfangs- und Wochenabschlusskreise beinhalten soziale, kognitive und emotionale Elemente des Gemeinschaftslebens, somit die Grundfesten des Unterrichtslebens. Es wird den Kindern dadurch ihre Mitverantwortung am Unterrichtsgeschehen deutlich, die Selbsttätigkeit und selbständige Arbeitsweise werden immer wieder hervorgehoben. Der Arbeitsrhythmus wird überschaubar, die Möglichkeit zur Selbstbesinnung wird durch die Kreisgespräche gegeben.

Zu den Spezifika einer Jenaplan-Schule zählt weiters, dass es keinerlei Zensuren gibt und dass es statt fixer Sitzplätze flexible Tischgruppen gibt.

Der Lehrer hat hier die Aufgabe, das Unterrichtsgeschehen für die Kinder so zu gestalten, „dass sie wollen, was sie tun.“[4]

Die Aktualität der Reformpädagogik und der neue Lehrplan

Der so oft kritisierte österreichische Lehrplan gilt in Fachkreisen als Grundübel der didaktischen Organisation des Stoffes unabhängig von der Lernbereitschaft und Fragestellung des Kindes. Die Individualität des Kindes wird im Lehrplan angeblich nicht berücksichtigt, Begriffe wie schülerorientiertes Lernen, indivi­dualisierendes und projektorientiertes Lernen sind jedoch durchaus zu finden.

Im Weißbuch zum neuen Lehrplan für das Jahr 1999 vom Oktober 1996 findet man als Grundsätze der Lehrplanreform u.a. folgende:

Weiters liest man an anderer Stelle über Prinzipien von qualitätsorientiertem schulischen Lernen:

Hier begegnet man ganz offensichtlich reformpädagogischen Ansätzen und Ideen!

Im Moment haben besonders Schulen des Mittelstufenbereichs Interesse an der Jenaplan-Pädagogik, da sie mit vielerlei sozialen, kulturellen, sprachlichen und psychischen Problemen – nicht nur von Migrantenkindern – zu kämpfen haben, insbesondere in den Ballungszentren.

Viele der soeben kurz dargestellten reformpädagogischen Ansätze sind im derzeitigen österreichischen Schulsystem durchaus im Zusammenhang mit Interkultureller Pädagogik vorstellbar, manchmal auch schon anzutreffen.

Gerade im Wiener Schulwesen mit 30% und mehr Kindern mit nichtdeutscher Muttersprache wäre ein Umdenken notwendig, nämlich weg vom traditionellen, assimilierenden und segregierenden Unterricht hin zur Akzeptanz von Indi­vidualität und grundsätzlicher Lernbereitschaft jedes Kindes.

Speziell beim Spracherwerbsprozess ist es methodisch nicht möglich, den Kindern mit einer anderen Muttersprache als Deutsch und mit unterschiedlichstem Sprachverständnis ausschließlich im Frontalunterricht zu begegnen. Deutlich wird falscher Unterricht durch die vielen verschiedenen psychischen Belastungen der zu unterrichtenden Kinder, die z.B. aus einer anderen Kultur stammen, zu wenig emotionelle Unterstützung erhalten, häufig aus ökonomischen Gründen problembelastete Eltern haben und/oder weil sie der Unterrichtssprache Deutsch noch nicht mächtig sind.

Gerade deshalb muss man sich über andere Methoden und Modelle im Unterricht Gedanken machen.

Literatur

Bundesministerium für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten, Sektion I: Weißbuch zum Lehrplan ’99, Entwurf, 15. Oktober 1996

Furch, Elisabeth, Interkulturelle Pädagogik und reformpädagogische Ansätze im Unterricht In: Anzengruber, Grete u.a. (Hg.), Lebendige Reformpädagogik, Schulheft 80/1995, Wien 1995

Lehrplan der Volksschule – Lehrplan-Service für das allgemeinbildende Schulwesen, 5. Auflage, Wien 1991

Oelkers, Jürgen, Reformpädagogik: eine kritische Dogmengeschichte, 2. Auflage, Weinheim und München 1992

Paetz, Andreas, Pilarczyk, Ulrike (Hg.), Schulen, die anders waren, Berlin 1990

Zur Autorin

Elisabeth Furch ist Professorin an der Pädagogischen Hochschule des Bundes in Wien 10., Ettenreichgasse 45b, für Deutschdidaktik und Interkulturelle Pädagogik.

 


[1]     Oelkers, Jürgen, Reformpädagogik: eine kritische Dogemengeschichte, 2. Aufl., Weinheim und München 1992, S. 112

[2]     Oelkers, J., Reformpädagogik …, S. 118

[3]     Oelkers, J., Reformpädagogik …, S. 119

[4]     Paetz, Pilarczyk, Schulen, die anders waren, Berlin 1990, S. 55

[5]     Weißbuch zum Lehrplan 1999, S.D/1 und D/2

[6]     Weißbuch zum Lehrplan 1999, S.D/2

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